Moloch
anständige Adresse vorweisen kann und mich wieder in den Griff bekommen habe, suche ich mir eine lohnenswerte und legale Arbeit. Vielleicht sehen wir uns das nächste Mal, wenn ich bei Lammergeyers Feine Weine hinter der Theke stehe und vor den Kunden kenntnisreich über den neuesten Jahrgang aus Stinchcomb oder Winkelreed referiere.«
Inzwischen waren sie am Ende des Bahnsteigs angekommen. Sie nahmen ihre Rucksäcke ab, Zohar sprang hinunter auf das Gleisbett. Diego reichte ihm das Gepäck, dann folgte er seinem Freund vom Bahnsteig.
»Muss ich dir die Worte ›drittes Gleis‹ in dein nicht so jungfräuliches Ohr flüstern?«
»Das ist noch etwas, was ich an diesem Job so hasse.«
Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen tanzten vor ihnen her durch den Tunnel, während die beiden schnell voraneilten und dabei immer voller Unruhe lauschten, ob das Geräusch eines herannahenden Expresszugs zu hören war. Doch sie hatten Glück und erreichten ihr Ziel, ohne dass ihnen ein Pendlerzug in die Quere kommen konnte.
Ein großes ›X‹ aus Kreide war auf eine mit Nieten beschlagene, rostige Tunneltür gezeichnet worden, die scheinbar von einem großen Vorhängeschloss und einer Kette gesichert wurde. Der Schließmechanismus war aber ausgebaut worden, und die Tür ging nach einer kurzen Drehung des Knaufs auf.
Hinter der Tür schmückten schwitzende Rohre und Bündel von Kabeln einen mit Ziegelsteinen gemauerten Durchgang, der schulterbreit und so niedrig war, dass man mit dem Kopf an der Decke entlang kratzen konnte. Die Luft roch nach Ozon und Dampf.
Diego legte eine Hand auf einige der zusammengebundenen Kabel. »Weißt du, das bringt mich auf eine Idee für eine Geschichte. Stell dir mal vor, du könntest durch ein solches Netzwerk Sprache anstelle von Strom leiten.«
»So eine Art Radio aus dem Kabel?«
»Nein, so nicht. Ich denke da eher an einen Eins-zu-eins-Modus. Ich hätte dann zu Hause ein Gerät, und über das Gerät in deiner Wohnung könnte ich mich dann mit dir unterhalten. Wäre das nicht eine revolutionäre Erfindung?«
»Kann schon sein. Aber worüber sollte ich mich mit irgendjemandem in Cromornos unterhalten? ›Wie ist das Wetter in deinem Block?‹ ›Was kostet bei dir ein Paar Schuhe?‹«
Diego nahm die Hand von den Kabeln und wirkte enttäuscht. »Ich schätze, es ist eine dumme Idee. Aber in meinem Beruf muss man oft die Fantasie mit sich durchgehen lassen…«
Eine halbe Meile weiter war im Lichtkegel der Taschenlampen ein Kanaldeckel zu sehen. Mit den Hebeeisen hoben sie den Deckel an, und nachdem sie die Seile um eine fest verankerte Kabelhalterung gebunden hatten, machten sie sich an den Abstieg.
Die Abwässerkanäle von Gritsavage wirkten archaischer als jeder andere Teil der Stadt, auch wenn sie zur gleichen Zeit entstanden sein mussten wie die Gebäude, die den Broadway säumten. (Allein Feuer war für ein Haus der Untergang; die Errichtung eines Ersatzgebäudes hing ab von den sporadischen Lieferungen der benötigten Materialien, weshalb die gelegentlichen Baulücken oft über Jahre hinweg das ewige Lächeln der Stadt verunzierten.) Gewaltige Blöcke aus grob behauenem, mit Schimmel überzogenem Stein bildeten den Boden und die gewölbte Decke, doch es blieb nur ein schmaler Vorsprung zu beiden Seiten des Gangs, der es erlaubte, sich seitlich des Stroms aus Abwasser, Spülwasser, Niederschlägen und Fäkalien zu halten, die alle einer unbekannten Mündung oder ihrer Klärung und Wiederaufbereitung entgegenstrebten.
Ein bemerkenswert großes Rudel Ratten schwamm vorüber, die Schnauzen Periskopen gleich in die stinkende Luft gestreckt. »Wir entfernen uns ein Stück weit von unserem Ausgang«, sagte Zohar, »ehe wir den vergifteten Köder ablegen.«
In einiger Entfernung von den baumelnden Seilen, entgegen der Richtung, in die sie sich bewegen wollten, legten sie ein tödliches Bankett für die Kanalratten aus, da sie hofften, die unangenehmen Bewohner der Kanalisation auf diese Weise von der Stelle wegzulocken, wo die Schuppenjagd stattfinden sollte.
Zohar lachte: »Haut rein, Razoos! Diesmal werdet ihr sehen, dass auch eine kostenlose Mahlzeit ihren Preis hat!«
Diego und Zohar entdeckten nach einer kurzen Strecke das nächste versprochene Zeichen, das sie erkennen ließ, weiter auf dem richtigen Weg zu sein: Ein Teil der Mauer war vom Hochwasser unterspült worden und zusammengebrochen, so dass einige Steinbrocken von beträchtlicher Größe in den verschmutzten Strom
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