Moloch
bedauernswertes. Gefangen in Körpern, die sie jahrhundertelang verabscheut hatten, war es den Imago-Spionen, in denen man aller Wahrscheinlichkeit nach die Schlüsselfiguren zur Befreiung ihres Volkes sehen musste, nicht möglich, wieder das zu sein, was sie gewesen waren. Sie saßen in der Falle, vorgebliche Menschen und nun vorgebliche Imagos.) Sholl hatte aufmerksam zugehört in jenen frühen Tagen und mit anderen gesprochen, denen dies und das zu Ohren gekommen war, manche um Informationen bedrängt, während sie in den letzten Zügen lagen. Jetzt ließ Sholl sein gefesseltes Publikum an dem Wissen teilhaben, das er gesammelt hatte.
Er erzählte dem an das Geländer geketteten Vampir, wann und wie die Imagos versklavt worden waren, durch die Hand eines Mythos, eines weisen Königs der Menschen aus uralter Zeit. Erzählte ihm, dass er und seine Gefährten – die Vampire, die sich Asymmeten nannten, Spione, Tauscher – die Wegbereiter gewesen waren. Wie die zurückgebliebenen Imagos endlich den Weg in die Freiheit gefunden hatten und ihre Anführer geworden waren, alle einem unterstellt: wie in der zurückerlangten eigenen Dimension ihre Gestalt nach und nach zerschmolz, zu etwas für menschliche Augen nicht Erkennbarem, und sie die Asymmeten hinter sich ließen.
An der Spitze von all dem stand ihr Großmächtiger. Das militärische Genie, welches den Krieg gewonnen hatte: ein Held. Das Imago, das sie Lupe nannten, den Fisch oder den Tiger. Der hier wartete, in London, im Zentrum, während seine Truppen den letzten Widerstand brachen. Auch das erzählte Sholl seinem Gefangenen.
Die Miene des Vampirs blieb ausdruckslos wie die seiner Genossen. Sholl kam zum eigentlichen Punkt seines Verhörs.
»Ich habe etwas«, sagte er. »Für den Fisch aus dem Spiegel. Wo ist er?«
Keine Antwort.
»Wo ist der Fisch aus dem Spiegel?«
Sholl rammte den Doppellauf der Schrotflinte gegen die Schläfe des Asymmeten, der zur Seite kippte, soweit die Fesseln es erlaubten, und ein wütendes Fauchen ausstieß. Im Gegensatz zu seinen Handlungen bediente Sholl sich, als er weitersprach, eines ruhigen Plaudertons.
»Was kann ich tun? Du hast keine Angst vor mir. Keiner von Deinesgleichen hat Angst vor mir. Lupe wird keine Angst haben. Was könnte ich ihm antun? Ich bin keine Gefahr für den Fisch aus dem Spiegel, oder? Ich will ihm ein Geschenk bringen. Wo ist er?«
»Ich will ihm ein Geschenk geben.«
Sein Gefangener schaute ihn groß an. Sholl begann zu kochen. Er schlug dem Vampir, während er weitersprach, methodisch abwechselnd links und rechts ins Gesicht. Nach jedem Schlag schnellte dessen Kopf sofort zurück und er schaute ihn wieder an, furchtlos, ungerührt. »Ich bringe ihm ein Geschenk. Ich habe etwas für ihn. Willst du nicht, dass er etwas bekommt, das ihm unvergesslich bleiben wird? Ein Geschenk. Wo finde ich den Fisch aus dem Spiegel? Wo? Ich bringe ihm etwas. Ich habe ein gottverdammtes Geschenk für ihn. Etwas, das er nicht zurückweisen kann. Wo ist er? Wo ist der Fisch aus dem Spiegel? Wo finde ich ihn? Den Fisch aus dem Spiegel? Wo finde ich den Fisch aus dem Spiegel ?«
Plötzlich sprach der Vampir, mit einer bestürzend menschlichen Stimme, und antwortete. Sholl brauchte. einige Sekunden, um die erhaltene Auskunft zu verarbeiten. Ein Lächeln zog über sein Gesicht. Natürlich.
Er hatte gewonnen. Der Vampir glaubte nicht, dass er für den Fisch aus dem Spiegel eine Gefahr darstellte. Was schadete es, wenn er wusste, wo dieser zu finden war? Vielleicht bewog seine fremdartige Psychologie den Vampir, seine Herausforderung anzunehmen oder womöglich wollte er sehen, wie Sholl die Information verwertete, welchen Verrat er plante – um damit zu scheitern. Er war nicht bereit zu glauben, dass dieser Mensch keinen Plan hatte.
Sholl merkte, dass die anderen Vampire über das Verhalten ihres Genossen schockiert waren. Sie wanden sich beunruhigt und rollten die Köpfe wie kranke Hunde. Hier und da hörte Sholl einen winseln. Er richtete den Blick in die Höhe, senkrecht nach oben, folgte mit den Augen der schwarzen Stufenspirale über seinem Kopf, lauschte auf die Stille und das leise Tröpfeln und Scharren der Untergrundgeräusche und das unverständliche Raunen der Vampire. Ganz plötzlich überkam ihn Angst, und als er den Lichtstrahl auf die Gesichter der Wesen richtete, die ihn umstanden, eins nach dem anderen aus den Schatten hob und sah, wie sie ihn aus runden Augen anstarrten, ohne zu blinzeln, als
Weitere Kostenlose Bücher