Moloch
er auf ihre schlaffen oder verzerrten Münder blickte, verpuffte sein Gefühl von Überlegenheit.
»Weshalb wollen sie mich nicht anfassen?«, flüsterte er. Er hasste den kläglichen Ton in seiner Stimme. »Kein einziger von ihnen würde mich freiwillig berühren, kein Imago in ganz London. Aber du. Warum du?«
Er senkte den Blick wieder auf die gefesselte Kreatur vor ihm und stieß einen Wutschrei aus. Einer der Asymmeten, mutiger als die anderen, hatte sich herangeschlichen, auf Armeslänge, und befingerte die Handschellen. Sholl trat zurück und legte die Flinte an, doch zu spät, der Vampir hatte die Kette zerrissen, warf sich seinen blutenden Genossen über die Schulter und galoppierte unter Triumphgeheul mit ihm davon.
Sholl feuerte einen Schuss in die Dunkelheit, und in dem jäh aufzuckenden Mündungsblitz sah er, wie das Schrot in die Leiber mehrerer Vampire fetzte, die schreiend gegeneinander taumelten, doch Retter und Geretteten hatte er verfehlt. Sie waren für ihn viel zu schnell zwischen ihresgleichen und in der stygischen Finsternis verschwunden.
Schwefelgeruch brannte ihm in der Nase. Nach dem ersten Schmerzgebrüll waren selbst die verwundeten Vampire stumm. Die Reihen schlossen sich, und als einzige Veränderung zu vorher waren die ihm zunächsten Gesichter, die ihn anstierten, mit dem Blut der Nebenstehenden bespritzt.
In der Finsternis unter der Erde erwiderte Sholl ihr wortloses Starren und wartete darauf, dass sie sich auf ihn stürzten, doch immer noch taten sie es nicht.
Für den Weg die Treppe hinauf brauchte Sholl kaum halb so lange wie für den Abstieg. Abwärts hatte die Angst vor dem, was ihn erwarten mochte, bleiern an seinen Füßen gehaftet, jetzt hingegen beflügelte ihn der sehnliche Wunsch, diesem Ort des Schreckens zu entfliehen.
Er nahm die Treppe in einem langsamen Dauerlauf, mit Pausen nach soundsoviel Stufen, um Atem zu schöpfen. Jedes Mal wandte er den Kopf und schaute zurück, und sogar nach allem, was er eben gesehen und getan hatte, jagte ihm der Anblick der vielen stillen Gesichter, die ihm folgten, eine Gänsehaut über den Rücken. Sein Ehrengeleit: die blutbesudelten Vampire in ihren Alltagskleidern. Sie hielten stets exakt den gleichen Abstand, als zöge er sie an unsichtbaren Fäden hinter sich her, wollten die Gewissheit haben, dass er auch wirklich ihr Revier verließ.
Sie kamen mit bis zum Portal des Bahnhofs, sammelten sich dort, und nur ihre Blicke folgten Sholl, der in den Spätnachmittag hinausstolperte, die Arme ausgebreitet, als ob selbst dieses schwindende Licht für ihn ein Lebenselixier wäre, welches ihm neue Kräfte verlieh. Die zurückgebliebenen Asymmeten betasteten sich immer wieder gegenseitig nervös, ein sozialer Automatismus ohne Entsprechung im Kanon menschlicher Gebärden.
Sholl stand erschöpft auf der Kreuzung vor dem Eingang zur U-Bahn-Station. Die Imagos machten keine Anstalten, ihm weiter zu folgen, und das Geziefer aus den Spiegeln war nicht wieder aufgetaucht. Die Straßen waren ausgestorben.
Taumelnd drehte Sholl sich zum Bahnhof herum. Er rieb sich das Gesicht wie jemand, der gerade aufgewacht ist, und schaute zu den Vampiren, die mit großen Augen darauf warteten, dass er endlich verschwand. Aus dem Halbdunkel schlug ihm ihr Hass entgegen.
Sholl war zumute, als müsse er gleich platzen vor übermütigem Triumph. Er hatte sich in die Höhle des Löwen gewagt und war mit heiler Haut wieder herausgekommen. Und hatte sie mitgebracht, die Antwort auf seine Frage. Er wusste nun, wohin er gehen musste.
Mit erhobenen Armen, die Haltung einer Vogelscheuche nachahmend, wankte er in Richtung des gähnenden Schlundes, dem er eben erst entronnen war, zurück zu den Vampiren, lief torkelnd auf sie zu wie ein nicht ganz ernst gemeinter Kinderschreck. Sie fuhren schneller ins Dunkel zurück als man sehen konnte. Sholl lachte atemlos, als er sie verschwinden sah, wartete, bis ein, zwei Köpfe zaghaft wieder auftauchten, wiederholte dann seinen fuchtelnden Sturmlauf und trieb sie erneut in Deckung.
Nach zwei Runden dieses albernen Spiels wurde er müde und verlor die Lust, ging über die Kreuzung zu der Ruine einer Immobilienagentur und ließ sich in ihrem Schatten schwer auf den Bürgersteig sinken. Einige Sekunden lang hörte er nichts außer seinen eigenen schnaufenden Atemzügen. Er senkte den Kopf auf die Brust und versuchte, in sich neue Kräfte zu mobilisieren. Nur nicht darüber nachdenken, was er als Nächstes tun musste.
Das
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