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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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täglich. Ich frage eher: Wo bin ich?«
    »Und wo also?«
    Dass ich so frage, behandelt sie wie das Symptom einer Erkrankung und sieht mich an, Vibrationsalarm in den Augen.
    »Ich bin nicht mehr so leicht gegenwärtig.«
    »Was fehlt Ihrem Leben?«
    »Das kann ich so nicht sagen.«
    Sie wischt sich die Haare aus dem Profil und entblößt einen kleinen, akkurat herausgesogenen Knutschfleck.
    »Das Sündigen?«
    Ein angefangener Blick.
    »Hier will ich leben für immer.«
    Gezahlt, den Mantel genommen, die Straße inhaliert. Die Verliebtheit ist zurück.
     
    Bill erzählt vor allem Geschichten von seinem Sohn, offenbar ein Prachtkerl, der schon sechsjährig aus Angst vor dem Tod in den Wald gelaufen war. Dort fiel er in eine Grube, angeblich eine Hinterlassenschaft der IRA und ihrer Sprengstoffexperimente, und kam nicht mehr heraus. Die Polizei kreiste mit dem Hubschrauber über dem Gehölz, aber gefunden hatte ihn schließlich der Vater.
    »Ich habe Mozart singen hören«, war das Erste, was der Junge nach seiner Rettung sagte, und der Vater hatte ihn mit einer Ohrfeige einem Leben wiedergegeben, das sich der Sohn zwanzigjährig dann selber nahm.
    Ein paar Tage nach all dem Schwelgen in seinen Erinnerungen ist Bill am Telefon. Seine Stimme klingt tonlos vor Schwäche:
    »Hilfe«, flüstert er, »ich komme nicht aus der Badewanne.«
    Ich lasse mir vom Hausmeister den Schlüssel geben und hebe den alten einsamen Mann, nackt, weiß und dürr wie er ist, aus der Wanne. Der Seifenschaum sitzt ihm wie Eisblumen im schütteren Brusthaar. Der Boden rund um die Wanne schwimmt, das Wasser ist kalt, so lange hat er gekämpft und gezögert, das Telefon zu benutzen, das er wohl schon vorsorglich neben die Wanne gestellt hatte. So gut vorbereitet, wie er ist, muss er diese Schwäche schon lange mit sich herumtragen. Aber wir sagen beide kein Wort, während ich beginne, ihm brüsk – zum Schutz gegen alle Rührseligkeit, aber im Gedanken daran, wie er den Sohn aus der Grube hob, die zitternde Brust zu frottieren.
     
    Jenseits der Endhaltestelle der Buslinie, weit außerhalb Dublins, breitet sich der alte Friedhof über die Hügel wie ein Schlachtfeld. Er versammelt die Toten nicht nur, er stirbt mit ihnen. Tief hinein kann man laufen, tief hinabsteigen wie in Dantes Jenseits, findet die Steine gestürzt, von Efeu und Brombeerranken überwuchert, findet manche Grabstelle unzugänglich im Dickicht und manche Platte zerbrochen. Auch klaffen Gräber offen in der orangenen Erde, ausgeweidet wie Kissen, aus denen dahingeblühte, von Vögeln verschleppte Blumen, verwehte Schleifen herausgefleddert wurden. Korpulente Saatkrähen wandern von Platte zu Platte, über Moose und Flechten. Die aufrechten Schriften werden von Runen und Symbolen flankiert, werden zu Versen in der Ordnung von Akrostichen arrangiert, beherrscht mal von nekrophiler Herzlichkeit, mal von trunkenem, passivem Pessimismus.
    Immergrün blüht die Lyrik unter der Vegetation. Mittendrin könnte hier ein Mensch liegen, tagelang, und würde nicht gefunden. Kein Laut ringsum zwischen den sich wechselseitig anbetenden Statuen. Tote Profile, bemooste Steine, verwitterte Werte. Unter Daten und Zahlen, Versen und abgeblätterten Goldlettern ein Eifern und Suchen nach Ausdruck, ein Kollaps unter Pathos. Der Schmerz hat das Versmaß zerhauen, der Blick geht blind von all den Tränen in die Welt.
    Eine verlebte Vettel kommt im dicken, abgetragenen Mantel samt Kopftuch über die Grabplatten daher, in der Faust einen Mimosenstrauß. Ein Bündel Verwelktes rupft sie aus einer rostigen Dose Kalbsleberpastete und erstarrt in der Bewegung: Drüben streiten zwei Eheleute mit unterdrückten Stimmen über dem Stein. Eine Erinnerung an das äußere Leben. Aber die Füße werden kalt, und Angst kann man haben vor der Kirche, Angst vor dem in den Erdleib getriebenen Stollen. Angst? Da seufzen die Bustüren von der Straße, der Geruch von Würsten weht auch heran, und auf der blinden rauen Steinplatte zwischen dem Efeu stehen wirklich die deutschen Zeilen: »Was dieser kleine Raum enthält / das war für mich die ganze Welt.«
     
    Der Tag war schon mal da, doch er verschwindet wieder. Dunkler wird es, die Autos schalten ihre Scheinwerfer an. Es regnet nicht, aber lichtärmer schimmert die Straße.
    »Mister«, sagt das kleine rothaarige, sommersprossige Mädchen, einem Prospekt über Irland entsprungen, und blickt mich an mit den Augen einer Absinth-Trinkerin:
    »Ich singe mit der

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