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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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schmutzige Ziege an einen Baum gebunden mit einem faltigen, aber schon geschwollenen Euter. Marie-France hebt das Kleid der Janine und lässt sich in die Hocke. Schneeweiß sind ihre Knie. Unsere Hände treffen sich auf dem klebrigen prallen Borstenfell dieses Euters, von dem sich ihre Nikotinflecken nun noch deutlicher abheben.
     
    Über vier Stunden braucht der Himmel, dann ist jede blaue Lücke geschlossen, zwei Stunden später hat er das weiß schimmernde Grau schwarz eingefärbt. Fertig. Jetzt, da der Abend in den Nachmittag bricht, wogt der Baum vor dem Fenster schwer auf und nieder, die Vögel schreien aufgeregt in den Hecken, und nur die Schwalben sieht man noch vor der Himmelsfront auf und nieder tauchen. Jetzt grollt der erste Donner, kurz wie eine unwillige Bewegung des Abschüttelns. Der Wind frischt auf, im Haus und auch gegenüber schlagen die Fenster. Der zweite Donner kopiert den ersten, der dritte aber zögert noch, ehe er rumpelnd und lallend verhallt. Als käme er über die Schwellen und Terrassen einer göttlichen Kehle, gurgelt jetzt der vierte erst empört, dann krachend über das Land, und schon sirrt ein feiner Regen gleißend durch die Blätter. Blitze glimmen in den Wolkenwänden wie die Fäulnis im Holz. Die Donnerschläge folgen einander nun rascher, verweilen länger. Die Vögel sieht und hört man nicht mehr, und auf der anderen Straßenseite schließt jemand die Fensterläden. Zum eigenen Fenster aber zieht die Frische bestäubter, feucht atmender Erde herein. Jetzt kreiseln, wie einzeln gezündet, die Donner aus hoher Höhe herab und krachen auf die Stadt, unförmige Klangtrümmer. Fort, dahin, wo man sie nicht sieht, zieht sie am Wolkenband der teilnahmslose Himmel. Der Regen schwillt jetzt an, schon glänzen alle Dachziegel, und silbern schaukeln die Tropfen an den Blattspitzen. Lange regt sich gar nichts nach dem einen schweren Schlag. Ein Zittern und Schimmern tanzt noch hier und da über die graue Fläche, und einzelne Vogelrufe fragen schon wieder hinaus. Unter den Bäumen im Hof hatte jemand heute Nachmittag Holz gehackt und gehämmert. Die Stämme und Scheite samt den Werkzeugen liegen matt glänzend im lauen Regen. Der Wind wiegt die Baumkronen darüber sachte. Irgendwohin ist der Sturm enteilt. Nur Atemzüge bewegen noch die Bäume. Ganz oben tritt ein silberner Wolkenstreif aus dem Grau. Schleierhaft sinkt der Regen immer noch, begleitet vom fernen, tonlosen Klagen. In das Wetter hinaus, schwarz, schräg und schnell wie Geschosse, fallen wieder mit vorgestreckten Köpfen die ersten Vögel, suchend.
     
    Wenn wir in den Sommernächten hinausfahren zum Steinsee, dann liegt er meistens ganz still, und da wir ihn, den wir nie bei Tag gesehen haben, gut kennen, finden wir auch immer gleich den Steg im Schilf, auf dessen Planke wir nacht- und weintrunken, nebeneinander ausgestreckt, Sterne, See und Stille kosten. Ich lasse mich nackt ins Wasser, alles berührt mich, die laue Kälte, die Schwärze, die Wärme von innen bei jedem Armzug. Dann nass in die Kleider und ein dünnes Rinnsal Wein in die Kehle geschüttet!
    Aus der Entfernung hört man gedämpfte Stimmen. Sie flüstern uns herbei, und wir finden auf diesem Steg zwei Jungen, drei Mädchen. Die Mädchen, forscher, wollen schwimmen, die Jungen zieren sich. Aber die eine, der sie doch auch gern imponieren würden, nestelt schon am oberen Knopf ihrer Bluse, und dann legt sie in einem raschen Entschluss alles ab, steht leuchtend weiß und bauchig auf dem Steg, und gleich gleiten drei Silberblätter nebeneinander über den Wasserspiegel.
    Einer der Jungen kommt noch nach – als er aufgeschlossen hat, streift ihr unterdrücktes Schreien und Jauchzen lauter über das Wasser. Sie fassen sich jetzt an, wollen Angstlust fühlen und kehren zum Steg zurück, dessen Pfähle sie im Wasser umklammern, während sie mit den Beinen strampeln, die sich in der dunklen Tiefe verlieren, und noch einmal stoßen sie sich ab und treiben hinaus wie die Blesshühner, während sich die Wipfel der Bäume in der mondlosen Nacht neigen … – die Handelnden für diesmal so glücklich wie die Betrachter.
     
    Die Hochstimmung ist allein. Plötzlich steht sie im Körper wie die Atemluft. Dann ergreift sie Besitz: Tu was, wandere, marsch!, die Bewegung macht glücklich. Man hat unter den Nomaden keine weinenden Kinder gefunden. Nimm also dies Glas, seinen Rand an deine Lippe, sieh den klobigen Mann vor dem Fenster, der bei jedem Schritt selbstbewusst

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