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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Großmutter das ganze ›Lieder aus dem Vaterland‹-Buch durch.«
    »Alle Achtung.«
    »Was bedeutet der Turm da hinten?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Und der Engel?«
    »Den brauche ich dir nicht zu erklären.«
    »Stimmt auch, und wo finde ich jetzt die Baby-Gräber?«
     
    Toter Igel auf einem freien Plätzchen inmitten einer hohen Heidelandschaft. Ich drehe ihn mit der Fußspitze um, sein Gesicht schreit mit weit geöffnetem Rachen und allen Zähnen, schreit gegen den Himmel wie vorher gegen die Erde. Dicke schwarze Käfer kriechen aus der Tiefe seines Rachens. Später fährt vor einer aufgegebenen Brauerei ein blondes Mädchen auf einem Fahrrad ohne Blick an mir vorbei, noch später ein Zug mit bemannten Fenstern, wie von Landsern besetzt, und aus dem Nichts ergreift mich ein absurdes, erleichterndes Anschwellen des Nicht-Wollens. Das bleibt. Der Tag zieht über die Erdkrümmung davon. Diese seltsame Wesenlosigkeit bleibt. Was sie unterbricht, ist der Moment, als am Abend die Bedienung den leeren Teller abräumt und sagt:
    »Sie sind ein dankbarer Esser.«
    Und ich schlendere über die Straßen zurück zum Friedhof mit einer Melodie auf den Lippen, und als sie bewusst wird, stammt sie aus der Volksschule, als wir krähten: »Lobet all das Handwerk, Groß und Klein, das Gott hat selber gesetzet ein, als er die Welt hat erschaffen …«
     
    Sehe in einer dreckigen Seitenstraße dem Entladen eines Viehwagens zu. Die zottigen, schmutzgehärteten Schafe stolpern panisch die Rampe herab, müssen mit »Yup, yup, yup«-Rufen animiert werden. Rechts und links strahlt das Rot der Schlachterfenster, es liegt der Duft von frischem, blutnassem Fleisch in der Luft. Die Tiere wollen nicht herauskommen, brechen sich wie alternde Balletttänzer fast die Beine auf der schrägen Ebene, straucheln und torkeln. Ein Bediensteter im Kittel stochert seitlich zwischen den Stäben in dem Pelz-Fleisch-Knäuel so lange herum, bis das letzte Schaf durch den Gang getrieben ist, hinter dem Tor der Schlachterei verschwindet und in den Chor der Tragöden einstimmt. Der Bedienstete aber wendet sich wieder seinem Gesprächspartner zu und vollendet die Beschreibung dessen, was er zu Weihnachten alles kochen wird. Erst schmeckt er die Vokabeln ab, dann setzt das Gewissen ein, mit dem Satz:
    »Ist schließlich nicht alle Jahre Weihnachten, nicht?«
     
    Der Junge beobachtet die schöne Nachbarin, die Mutter schreit in den Hof: »Ich komme gleich da runter«; der Bruder kriegt vom Vater einen Schlag auf den Hinterkopf: »Lass gefälligst den Firlefanz«; der ältere Bruder sagt: »Ich will ich sein, und das bin ich auch«; die Kleine ruft: »Mama, ich tanze!«. Der eine Opa will zum dritten Mal am Tag ins Bordell, der andere war fünfzig Jahre lang Oberkellner in einem großen Hotel und erhebt sich heute noch bei jedem Gast, der in den Raum tritt. Lass sie kommen. Die Kurzwellenstimmung: Man verfolgt mit den Augen die weitschweifige Hypotaxe der Lebenslagen. Sie kommt an kein Ende. Chaotisches taucht auf, und in diesem Gestöber der Ausdrucksimpulse ist alles zugleich einzeln und allgemein, besonders und das Gleiche, und mitten darin entfaltet sich der Exzess des Gegenwärtigen. Warum so glücklich, fragt man nicht, aber man empfindet den Wunsch, diesen Trommelwirbel der Zeichen nicht verstummen zu hören.
     
    Nach dem Theater kehren wir in ein lederpolstriges Künstlercafé ein, sitzen über Eck, trinken Bordeaux, werden uns einiger und einiger. Sie ist in ihrer Selbstbehauptung zart, und etwas sagt ›lieber nicht‹. Auf der Straße dünsten die nächtlichen Fassaden den Wein aus. Wir bleiben vor dem Aushang eines Kinos stehen. Ich ziehe sie vor der Scheibe an der steifen Taille heran. Während ich weiterspreche, fühle ich federleicht, wie sich ihre Hand auf meinem Hüftknochen absetzt. Das ist nur kurz, und doch: Als wir später, über unser Phlegma lächelnd, in zwei Richtungen desselben U-Bahn-Schachts auseinanderfahren, war das der Augenblick der Augenblicke, beschriftet mit: Wenig zu sagen, nichts zu tun.
     
    Der Versuch, auf den eigenen Fußspuren zurück in die Situation zu laufen, die rings um mich andauernde Situation, die mir erlauben wird zu sagen: Ich war da. Die Augenblicke vollendeter Gegenwart. Horche ich wartend in ein schlechtbesuchtes Restaurant hinein, so wird vielleicht nichts sein, nichts bis auf den Ober, der das Nationalgericht bringt im roten Tontopf. Auf den erhitzten Käse blickt er pietätvoll, als gebe er ihm das

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