Momentum
letzte Geleit. Dann ruft der Gast den Kellner »Chef!«, dann schüttelt die junge Frau mit dem Chemotherapie-Schädel unter der Wollmütze indigniert den Kopf und hat die Kraft, mit letzter Kraft noch zu verneinen – und schon ist Wirklichkeit.
Frank wird von seiner thailändischen Freundin verlassen. Es geschieht unvorbereitet, im Wagen, als sie in einer Garage gerade ihre Parkbucht gefunden haben. Sie habe den Eindruck, sagt Blossom, sie diene ihrer Mutter nicht genug, versündige sich an der Familie, der Wahrheit.
»Ich muss dich verlassen, Geliebter«, sagt sie, »aber ich liebe dich noch.« Steigt aus und geht mit klackernden Absätzen durch die Einfahrt der Tiefgarage aufwärts und davon. »Das ist für immer«, weiß Frank und macht ein Foto von der Betonwand, auf die sie blicken, während sich die Trennung vollzieht. Ich betrachte zuerst das Foto, dann lese ich die Nachricht, die die Wand in ein Denkmal verwandelt.
Eine rückwärtige Hauswand in der Stadt. Es wird Frühling. Aber die braunen Blüten, das Benzin, der Vogelatem, die Mischung auf einer Basisnote von Luftzug! Als dann der Geruch von gebratenem Fisch durchschwebt, ist Großstadt, nein, ist endlich sogar Frühling. Halbstarkenzeit. Der Mann macht ein Gesicht wie zum Neujahrsmorgen und durchblättert dazu eine Illustrierte mit dem Titel »Innocent Pictures«. Doch der Weg zum Vergnügen ist mit dem eigenen Schatten gepflastert, und sein verdruckstes Gesicht weckt die Frage: Welche Vorstellung hat die Katze vom Beutetier?
Abends sehe ich ihn wieder mit einer lustigen Nichtsnutzigen vor einem Kinoplakat: »Morbid Horror in Vivid Colour«. Er zeigt darauf und sagt:
»Da gehen wir hin.«
Eine Frau gibt mir auf der Straße in Oslo eine Zeitung. Ich sage: »Ich verstehe kein Norwegisch.« Sie erwidert: »Aber das Blatt ist über Jesus.«
Wir reisen blind und begriffslos, aneinandergeklammert und, wie man nicht umsonst sagt, »schrecklich verliebt«, auf der Rückbank eines Wagens, der uns beim Trampen aufgegabelt hatte. Wir reisen maßlos, kopfüber, brettern quer durch Luxemburg, durch Frankreich, hören »Thick as a Brick« und meinen den Süden, den fiktiven Süden, den ohne Länderkennung, den, der südlicher als Spanien ist und nördlicher als Marokko. Ich weiß noch, wie ich im halbhellen Frühmorgen von Avignon erwache, und in dem Zwielicht geht ein flammend rothaariger Junge, ein sommersprossiger, nein, sommerfleckiger, monströs hässlicher Halbwüchsiger, ein lichtscheues Element, gebeugt wie ein Alter und mit schwer hängender Unterlippe über den Zebrastreifen, und unser Fahrer sagt lakonisch, Wort für Wort:
»Tja, Mäusepaul, du alter Eierdieb, da musste ganz allein mit fertig werden!«
Von ihr blieb der Mandeltee, die Zabaione, der Kuchenteller, der staksende Lauf durch den Frühlingsregen, über Pfützen springend, der Kopf am Abend im Kissen: »Erzähl mir was!« Oder, wenn ich heimkehrte, in ihre sperrangelweit offene Mimik, und sie strahlte:
»Erzähl! Fang mit dem Klingeln an!«
Auch Bisswunden. Der Frohsinn einer elektronischen Orgel. Die Marginalie an einem Bibliotheksbuch, sauber von ihr dahingekritzelt: »Die Töte des Begreifes«. Ein anderes Buch hatte 223 bedruckte Seiten. Angestrichen aber hatte sie nur den Satz: »Der wichtigste katalanische Künstler war Isidre Nonell.«
Sie konnte auf der Oberfläche des Tages liegen wie eine Seerose. Ein anderer Vergleich fällt mir nicht ein.
»In meiner Gesellschaft kommen die Menschen auf Gedanken«, sagte sie.
Wenn sie abends ins Haus kommt, wünsche ich mir ihre Wangen kühl von der Herbstluft, nicht muffig temperiert vom Autoinneren. Im Sommer wünsche ich sie mir staubig, gestreift vom Ausatmen der sonnenverbrannten Häuserwände. Am schönsten erscheint mir ihr Gesicht, wenn es vom Lachen geradezu verdorben wird, müssen doch sonst alle anderen auf das Lachen warten, um zu glänzen. Auch soll sie zwischendurch sagen: Ach nein, das will ich lieber nicht … Ich freue mich dann am Aufsteigen einer Grenze, in der sich ihre Persönlichkeit Fassung gibt. Wo sie bei sich ist, ist sie automatisch bei ihrer Unverträglichkeit mit der Welt, und ein Paar, selbst für einen Abend, lebt doch auch, um die Nicht-Zugehörigkeit zu seiner Zeit zu verfeinern. Mit Bedacht wähle ich die, die mir fehlen wird und freue mich an der Ausbreitung unserer Genügsamkeit.
»Aber wenn du ein Geograph wärest«, sagt sie, »würde ich erwarten, dass du mir deinen neuen
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