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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Globus widmest.«
    Einmal stehe ich in einem seichten Fluss bei Orvieto, sie sieht mich vom Ufer aus an und ruft:
    »Predige!«
    Und wieder tue ich, wie mir geheißen, genau das, wie im Kinderbett, Satz für Satz suchend. Das Wasser zerrt an meinen Hosenbeinen, der Wind atmet flach, und so, mitten aus der Gegenwart, predige ich über Gott Dingsda, Gott Sowieso, Gott Wiegesacht und die vierzig Räuber, sage ich den künftigen Erinnerungen Willkommen, wate aus dem Gestade ans Ufer und küsse sie aus der Erzählung heraus mitten in die schwebenden Bilder, in den Krimskrams ihrer Träume und in ihr zufriedenes Lächeln hinein.
     
    Luigina:
    In der Tat, wie du weißt, ich bin im Allgemeinen unbefriedigt. Diese meine Ruhelosigkeit ist klar, weil ich meine Sitte nicht gefunden habe. Ich hasse mich, weißt du, unterdessen esse ich eine Praline. Ich suche zu leben, aber die Aufeinanderfolge der Ereignisse sagt mir, dass ich nicht imstande bin. Dagegen zeigt die Zeit die Zeichen des Alters: zwei leichte Falten im Winkelmund. Gestern, als ich ins Bett gegangen bin, war ich nervös so sehr, dass ich geweint habe, dann habe ich viel gedacht. Zum Beispiel das Ragout. Weißt du, ich hasse es, weil es mir immer traurige, graue und einsame Sonntage meiner Kindheit erinnert. Mit Sergio geht es gut. Gestern wollte er mich lassen. Weil ich einen Abend ohne ihn ausgegangen bin. Er war zu Hause geblieben, weil er, der seinen Papagei verloren hatte, sehr traurig war und keine Lust zum Tanzen hatte. Ich bin zum Tanzen gegangen. Am nächsten Tag war er sehr böse, weil ich, seiner Meinung nach, neben ihm bleiben musste. Aber ich, vielleicht zu zynisch, habe seine Probleme nicht verstanden. Der Papagei für mich nichts vertritt. Ich bin ein unvernünftiges Dasein.
     
    Irgendwo dies Sanfte, das mit ihr einschläft, der kindliche Blick in das Kissen, die aus der halbbewussten Schläfrigkeit tauchende Gebärde des Decke-Raffens mit der Faust, während die Gedanken nach Traummotiven suchen. Und ich bin noch ganz wach, sehe ihren Unterarm entlang, werde nicht fertig mit dem Tag und kann dieses sanfte Phlegma nicht finden, mit dem sie dem Schlaf gibt, was des Schlafes ist, werde vielmehr marschieren, wenn ich mich hinlege, werde gelähmt weiterstürmen wollen und auf der Mitte der Anstrengung gefällt werden müssen, erreicht und überwältigt. Von ihrem Im-Schlaf-Versinken aber ist etwas schon in jedem wachen Blick, selbst in ihrem kühnen Lachen, selbst im Triumphieren über etwas Unnützes, das ich sage. Aber wenn in ihr Leben die Lyrik oder die Erschöpfung tritt, dann werden ihre Augen groß und sanftmütig vor der Kraft der Trägheit, und in der unvermittelten Auslieferung an dieses Immer-schon-da-Stehende lässt sie sich gehen und kapituliert. Sie hält den Schlaf im Arm wie eine Monstranz. Kann sie denn je ganz enthemmt geliebt haben, wenn doch immer noch er da ist, der Schlaf, der ihr selbst mitten im Wachen ein unaufgebrochenes, manchmal klösterliches Gesicht gibt?
     
    Ich sage, während sie im Regen unter dem Dach einer Milchbar ein Mischgetränk mit Honig umrührt:
    »Wir müssen alles offen halten.«
    Sie erwidert: »Ja, die Wunden offen halten.«
    Der Junge am Nebentisch fragt im gleichen Augenblick seine Honigmilch-Trinkerin:
    »Liebst du mich?«
    Und sie erwidert: »Mehr ja als nein.«
    »Nicht mehr?«
    »Mehr geht nicht«, sagt sie. »Mein Gewissen ist ein kleiner schwarzer Pastor, ganz hinten in meinem Kopf.«
    Vier trinken, in Gedanken. Alles Gesagte passt in jedes Verhältnis. Ich schaue in die Augen der Frau an meinem Tisch. Manchmal umarmt sie mich für immer, manchmal nur für jetzt, manchmal im Zwischendurch. Heute aber ist sie in Wirklichkeit längst aufgebrochen, und zwar in dem Augenblick, als sich der Satz abspaltete, der an diesem oder am anderen Tisch fällt:
    »Ich kann nicht mehr gut gleich sein.«
     
    Während die Priester prozessieren, die Touristenführer ihre Monologe spinnen und ein Klageweib immerzu greint: »I poveri morti, i poveri morti«, ist auf der Kirchenbank eine abgearbeitete Frau im burgunderroten Mantel eingeschlafen. Alles lärmt um sie, aber diese vergessene Heilige ist einfach in den Schlummer entkommen. Ihr Gesicht sagt, dass sie aus Sorge den Schlaf gesucht hat. Es sagt auch, dass es die Sorge ist, die sie jetzt hochschrecken lässt. Schließlich weiß das Gesicht ebenso, dass es beobachtet worden sein könnte. Deshalb legt die Frau im Reflex einen Finger an den Mund, lässt den Kopf in den

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