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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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lächelt, als wäre er eine Blondine. Er lenkt seine Schritte, er ist das Ich dieser Bewegung, das reicht ihm zur Genugtuung. Sein schmuckes Ich hält all das zusammen, alle diese Organe und Funktionen, alle Ströme der Sekretion, des Metabolismus, der Energie. Er bewegt sich, er koordiniert seine Extremitäten. Er möchte sie am liebsten in einen Veitstanz führen, so stolz ist er, dieses Ich nicht nur zu haben und zu nennen, sondern zu sein. Alles berührt, alles trifft und mischt sich hier und läuft an einer Stelle zusammen. Er bringt sich, sein ganzes Selbst, immer hinter seine Handlungen und Worte. Das ist dumm. Das ist heroisch. Das ist bruchfeste Daseinsbejahung.
     
    Seit Tagen bin ich an der Westküste Irlands zu Fuß unterwegs, als mir ein Junge zuläuft. Auch er ein wenig verloren – »lost«, wie er selbst sagt –, trägt er seine Gefühle so stark vor, als spreche er zu seiner Gemeinde. Leidenschaftlich tritt er auf, gestikuliert entschieden. Wenn er aber seine Gedanken auf den Weg schickt, tut er es am liebsten aus einer Schwäche heraus. Also trinkt er, raucht er, und wenn dann die Gifte übernehmen, fasst er eine Idee, behauptet, dass sich nachts die Narben auf seinem Körper vermehren. Er weiß nicht, warum. Er sagt zum Beispiel:
    »Ich bin ein aufblasbarer Mann mit einem aufblasbaren Geschlecht, das keinen Schmutz und keine Kinder macht.« Er behauptet abrupt, der schlafende Mensch sei kein soziales Wesen mehr. Vielmehr lege er im Schlaf jede gesellschaftliche Disposition ab.
    »Aber in Thailand«, widerspreche ich matt, »da liegen sie in Garben und Trauben, die Schlafenden, und geben nicht nur Atem an die Atmosphäre ab, sondern auch schlafenden Geist.«
    Er schaut mich unverstanden an. Bringt er seine Ideen nicht gleich zum Fliegen, fügt er sich weiteren Schaden zu und macht in Gedanken gleich wieder mobil. Wir teilen uns in dieses Kalkül, rauchen, trinken, kiffen viel, essen kaum.
    Das geht so lange, bis wir, unterwegs zwischen Klosterruinen, in denen wir nachts unsere Zelte aufschlagen, uns nicht einmal mehr die zwei Kilometer auf den Beinen halten können, um uns ein Glas Milch zu beschaffen. Kaum aber stehen wir und setzen die Füße voreinander, freuen wir uns am Geschrei der Kinder, am Gähnen der Mädchen, die aus der Schule heimkehren, am Klopfen des Motors an einem Moped, am Geräusch des Lederballs über der abgewetzten Grasnarbe. Es liegen Jigs und Reels in der Luft, Hochzeitslieder und Wirtshausgrölen, es liegt sogar Dürer in den Gräsern, und die schmale Hand des Jungen taucht in die bodenbedeckte Bonbonniere, die ihren Deckel vor langer Zeit verloren hat, damit die Spinnenfinger des Jüngsten leichter in ihr fischen können. Jetzt ist es mein Begleiter, der in ihr fischt und den nächsten Monolog vorbereitet. Dazu trinkt er nicht, vielmehr schüttet er das Getränk in den Strom seines Einatmens. Die Aufgabe des Rausches ist es, den Kopf niederzukonkurrieren.
    »Ist das herrlich«, ruft er aus, »ist das
brustvoll

    Dann folgt die Enthüllung. »Denn nun«, so schwärmt er in Premierenstimmung, »entwickele ich euch meine ›Theorie von den unterirdischen Pferden‹«, und »Ja«, rufe ich, »unbedingt, deine Theorie von den unterirdischen Pferden« und fühle mich gerade dem Vierjährigen genauso nah wie dem Vierzigjährigen.
     
    In Connemara gerate ich auf meiner Strandwanderung immer tiefer in eine verlassene Bucht. Auf dem dunklen Sand welken die Quallen. Auch Seil-Enden liegen herum, Plankenstücke, Vogelfetzen, Tiergerippe, ein Plastiktrichter. Am häufigsten aber strandeten hier, gebläht wie Organismen, Handschuhe, Gummihandschuhe in allen Farben, mit herausgestülpten, geblähten Fingern, auch mal mit zerfetzten Handflächen, aber doch erkennbar Handschuhe, gut vierzig Paar, verteilt wie die Fragmente einer Sammlung mittelalterlicher Skulpturen. Sie gestikulieren, sie weisen noch Wege, teilen Empfindungen mit, befragen den Himmel. Sie bedeuten noch, und die Hände, an denen sie einmal saßen, stützen noch irgendwo einen Kopf.
     
    Seit vier Tagen auf der Insel, seit zwei Tagen verliebt, in eine Frau weit weg.
    In ein Restaurant getreten, plötzlich ist die Verliebtheit vorbei. Die Bedienung in zweideutige Reden verwickelt. Sie war Jurastudentin, wollte sich aber von den Professoren an der Uni nicht verderben lassen, stieg aus. Dies hier war erst nur ein Job, aber jetzt ist es mehr.
    »Ich frage nicht mehr: Wer bin ich?«, sagt sie. »Es ist egal. Ich bin es ja

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