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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Nacken fallen und blickt hinauf in die Kuppel, die goldene, und wirkt für Augenblicke töricht.
    Doch gleich ist die Einfalt wieder abgeflossen, als sie im Angesicht dieser glänzenden, monochromen Wölbung wieder zu ihrer Sorge erwacht und nun schnell mit den Lidern schlägt, um die Tränen zu verhindern. Als sie sich gefasst hat, erhebt sie sich und schreitet nicht ohne Hast zu dem Mann, der unweit von mir eine Votivtafel fotografiert, und ich höre sie im Schwung der Bewegung flüstern:
    »Gib mir eine Zigarettenlänge für den Himmel.«
    Und schon schwebt sie in ihrem roten Mantel dem Ausgang zu, im Rollenfach der Madonna, Gebrochene und Gebenedeite unter den Weibern.
     
    Das Innere der Dorfkirche dieses kleinen Fleckens in den sizilianischen Bergen ist weiträumiger, als es der Ort und selbst als es das Kirchenäußere vermuten lässt. Der Bau stülpt einen Raum über den Dörfler, den dieser nicht kennt und im weiten Umkreis auch nirgends finden wird. So ist der Ausnahmezustand des Glaubens an das außerordentliche Raumgefühl gebunden.
    Man hält soeben die Vesperstunde ab, ohne Priester, aber im kollektiven Gebet. Hauchfein blau-braun schweben durch das Gewölbe die Weihrauchschwaden. Zwei Frauen in Schwarz liegen platt auf dem Boden vor einem Seitenaltar zum Angedenken eines lokalen Märtyrers, eines Geschlagenen, Erstochenen, Gesteinigten, Zerpflückten, Geflämmten, und leiern, die Lippen über dem Marmor, ihre Gebete so vor sich hin, dass es beim Darüberweghören klingt wie der Grundton des Dudelsacks oder ein Insektenschwarm. Dann aber erhebt sich über diesem Murmeln aus der Gruppe der Betenden eine Solistin in psalmodierender Selbstbeschuldigung, noch sündiger als die anderen, noch bußfertiger. Doch versickert ihre Stimme früh, eine andere übernimmt den Solo-Part und wieder eine andere. In ihrer Zerknirschung sind sie Schwestern. Ohne Partitur geht das, ohne dirigierende Hand. So genau haben sich die Reuigen auf die musikalische Konsonanz ihrer Gebete verständigt. Es erklingt die Polyphonie des Gewissens, mehrstimmig instrumentiert, während unter ihnen die Fingernägel der Märtyrer leise aus der Gruft herauswachsen.
     
    Padua. Hier, an diesem lichtlosen Gebäude mit dem Stacheldraht über den Mauern, die schon ein Scherbenfries krönt, hier scheidet die Stadt, die heute eigentlich für Menschen in ihrem Wohlstand, für junge, reiche, für verliebte Leute zu existieren scheint, hier scheidet sie an diesem verborgenen, also unscheinbaren, wenn nicht hässlichen Ort die Debilen, Abweichenden, Gesplitterten aus, die laut mit sich reden in der Bahn, die auf der Straße verbissen in ihre Schwäche hineingestikulieren, dumm, gemessen an der Effektivität dieser Stadt, hilflos mit all ihrer jugendlichen, kindlichen Beharrungskraft, dem Pathos ihrer unbeantworteten Möglichkeiten und freien Wertigkeiten, und doch weit innerlicher, auch zartfühlender bewegt. Aus dieser Öffnung in der Mauer schlüpfen sie auf ihren Freigang, als strebten sie ihrer Vermehrung entgegen, und agieren gleich, wie in der chemischen Reaktion mit dem Element der Straße, verworren, wie in einem Reflex auf das Milieu der Vernunft, verworren, mit ihren rastlosen, entblößenden Blicken verworren. Und einer in der Gruppe hat gleich nach dem Heraustreten auf den Gehweg nichts Emsigeres zu tun, als vorne am Hosenschlitz ein langes Fädchen zu zwirbeln, und die Verwilderte an seiner Seite bellt tatsächlich den Himmel an mit dem immer neu phrasierten:
    »Heute ist der Tag, auf den wir zuleben, seit es Tage gibt!«
     
    Das Erschrecken im Anblick der Schönheit von Venedig. Selbst beim ersten Anblick überwiegt die Erinnerung – woran, an welche eingeborene Idee einer Stadt? An welches Bild von einer Stadt? Ich erwarte Maria am Bahnsteig. Sie kommt, tritt mit ihrem kleinen Koffer aus der Halle, sieht, was vor ihr liegt, stöhnt »Ach du lieber Gott!« und weicht, während sich ihre erschreckt geweiteten Augen mit Tränen füllen, in den Bahnhof zurück, wo sie sich hilflos der Allerwelts-Cafeteria mit ihren roten Plastikstühlen zuwendet. Aus der Sicherheit des unattraktiven Raums heraus belauert sie dann durch die kondensmilchfarbene Gardine die Silhouette der Stadt, der sie nicht gewachsen war, den Canaletto, von dessen Firnis sie abgewiesen wurde, und sagt:
    »Jetzt muss ich mich erst mal vorbereiten.«
     
    Sie ist einen Tag lang über das Gelände der Biennale gezogen, von Pavillon zu Pavillon, Land für Land. In Russland

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