Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
Vom Netzwerk:
ruft eine Frauenstimme von hinten, »ich will die Werbung sehen.«
    »Danke, Schwester, auch das wollte ich erleben. Welch ein erhabener Damenhut!«
     
    Trete ich aus dem Kino auf die nächtliche Straße, Ausschau haltend nach irgendetwas Erleuchtetem oder Verdecktem, wie den Flashlights über den Markisen eines Clubs, dem rotierenden Leuchtsignal eines stehenden Krankenwagens oder den unscheinbaren Beschaffungskriminellen im Hausflur, suche ich nach einer zusammengeballten Bewegung unter Leuten im Bannkreis der Schaulustigen, finde aber nichts als schlendernde Heimkehrer, im Gehen süffelnde Bahnbeamte mit der Amtsbrosche am Revers, Kebab-Esser, maßvoll bezechte Rentner auf ihrem Weg ins Nest – und fühle mich aus einem Paradies vertrieben.
    Dort nämlich ist immer alles voller herzzerreißender Tempowechsel, wenn sich der ungeübte Verbrecher in einem überraschenden Moment des Zeit-Habens gleich vor der Tat noch eine Zigarette anzündet und mit derselben schrecklichen Geduld die Waffe handhabt, oder wenn man, in einem plötzlichen Ausblenden des Tons, das Stückwerk der Ausdrucksbewegungen, das Immer-neu-Ansetzen der Gefühle mit einem Mal pantomimisch begreift oder zusieht, wie die Opfer unter der noch nicht eingetroffenen Faust zu Boden gehen oder auf die Kugel warten, die sich im Stahlgehäuse der Waffe schon auf den tödlichen Flug vorbereitet, während noch rhetorisch abgerechnet wird. Trete ich aus solchen Filmen, in denen es auf gut Amerikanisch roh und moralisch verlässlich schlicht zugeht, auf die Straße, dann macht mir die Großstadt Lust zu schlurfen, durch die U-Bahn-Schächte mit der kalten Unanfechtbarkeit der Bilderhelden zu streifen und das eigene Gesicht in den Eckspiegeln heroisch versteinert zu finden, am besten ungleich allem außerhalb der Welt des Kinos, fadenscheiniger nur, suchtkrank, gefallen.
     
    »Pickpockets« wurde in Schwarzweiß gedreht. Die Vorgänge können niemanden überraschen, der Rodion Raskolnikow kennt, aber seine Philosophie ist inzwischen auf den Hund gekommen, zu einem Digest zusammengestrichen worden. Der Held fährt viel durch den Untergrund, er geht zum Pferderennen, sitzt mit seinen Freunden im Bistro und unterhält sich, sagt aber nicht viel. Zum Schluss sitzt er wieder, aber im Gefängnis, und die Freundin seines Freundes ist jetzt seine Freundin. Richtig, zwischendurch stirbt seine Mutter, und einmal verreist er für längere Zeit.
    An dem Schauspieler gibt es nicht viel zu sehen. Er ist anwesend abwesend. Abgesehen von seinen Händen nimmt man seinen Körper kaum wahr, auch verzieht er im ganzen Film keine Miene und kommt mit demselben Gesicht durchs Ziel. Einmal wirft er vor Zorn ein Buch auf den Boden. Aber er sieht dabei nicht anders aus, als wenn er der Frau eine Art Bekenntnis vorträgt. Da ist kein Unterschied zu erkennen, und das ist sehr kunstvoll, so reglos zu sein.
    Ich bleibe wie die anderen sitzen, im Sog des Situativen, bis das bescheidene Verleiheremblem mit Jahreszahl und dem Hinweis auf den Schutz des Urheberrechts an der oberen Kante der Leinwand verschwunden ist. Gedämpftes Jackenfassen, Tütenpacken, Knöpfen, alles mit müden Bewegungen, ernstem Mienenspiel, dann geducktes Entweichen in den kalten Luftzug der frühen Abendstunden.
    Ein Bild des Jammers, die ratlos in den angebrochenen Abend davongehenden Kinobesucher. Erst als ich, im Gang der Bahn stehend, einem Knaben zusehe, der durch Ritzarbeiten den Türaufkleber verbessert – von »obstructing the doors causes delay and can be dangerous« zu »obstruct the doors cause delay and be dangerous« –, und erst als ich dann die Zuschauer mustere, die alle kein Wort hervorbringen, aber nicht einverstanden sind, begreife ich, was sich dem dokumentarischen Blick vermittelt: Zuneigung ohne Grund, vermischt mit Bedauern, Abwehr im Anblick des falschen Mitleids, das man mit Augen fassen kann. Großer Film, »Pickpockets«!
     
    Ein Schwarzer mit Zöpfen unter der Wollmütze verkauft im Gehen Schirme. Es regnet nicht. Aus den Hausfluren stinkt es nach kaltem Tabak und Pisse. Irgendwo muss jemand angefangen haben, ein Kind zu verhauen. Das Geschrei setzt ohne Schrecken ein, arbeitet sich aber allmählich ein Crescendo hoch. In der Ecke stehen zwei Punks und küssen sich altmodisch. Ein pantomimisches Anfressen ohne viel Licht, Luft und Geschmack ist das. Küssen: Der Herr hat mir einen Pelz versprochen, warm ist sein Wort.
    Und wenn man sie dann hinter sich lässt, im Morgengrauen

Weitere Kostenlose Bücher