Momentum
heimkehrt, berauscht, nachdem man mit den anderen auf einer Parkwiese zuletzt nur noch lagerte und palaverte, wird daraus im Zurückblicken etwas wie eine Wiederentdeckung des Menschen. Alle wollten an diesem Abend erlöst werden oder wenigstens einen Blick auf die Erlösung werfen, Worte sollten reichen, Versprechen. Und sie alle bitten eigentlich unausgesprochen um einen Bruch mit der Lebensordnung, in der sie sich befinden, bitten um eine Idee vom guten Leben. Sie ist immateriell, liegt irgendwo zwischen dem Sehnen, dem Traum von einem Plan, einer Vorstellung der Umsetzung, in unbewussten Augenblicken der Freude, in einem Ankommen ohne zu verschwinden, in der Selbstüberbietung.
So fühlt es sich an, wenn man den allmählich von innen erblassenden Himmel in sich aufgenommen hat, ehe man aufgebrochen ist und in der Morgendämmerung den Abschiedsruf des Freundes zu oft wiederholt, damit es hin und her schallt, bevor man zu Hause den Schlüssel leise ins Schloss führt und die Garderobe einatmet und die Nacht und den Stimmklang und die Morgenkühle noch um sich fühlt, mit der Empfindung, dieses unfertige Lebensalter gerade ganz und gar ausgekostet zu haben.
Früher waren schmerzhafte Krankheiten, angedrohte Gewalt und nasse Küsse mein Inbegriff des Wirklichen gewesen. Erst das Kino öffnete mir die Augen für die Senken dazwischen, für das tägliche Ableben. Heute bricht das mit quietschenden Reifen über den Bordstein setzende Auto dem Ideal Bahn: Es werde Schrecken! Was für ein hochdosiertes Ideal, das sich im direkten Angriff auf das Leben ausdrückt! Der auf die Straße sabbernde Bettler, sage ich mir im missglückten Versuch, meinen Empfindungen Logik und Stringenz zu geben, ist mein Held, er gibt dem Auge zu fressen; der Punk, der Rocker, der betrunkene Schläger, alle, die ihre Präsenz ausdehnen, sind gute Menschen, weil sie in ihrer handgreiflichen Sprache wirkliche Begegnungen anbieten.
Wohlgemerkt bin ich selbst, als ich in der Nacht abkürzungshalber unter einer Fußgängerbrücke durchlaufe, in die mit hohem Tempo platzierte Faust eines dort wartenden Trinkers gelaufen und augenblicklich, ohne geringste Gegenwehr, zu Boden gegangen, wirklich berührt vor allem von der körnigen Oberfläche des Asphalts an meinem Jochbein, und abgesehen davon erstaunt von der Prägnanz des Erlebnisses, das mich mit unbestimmten Schmerzen und gefilzten Taschen, aber hellwach, liegen ließ. Ich wurde bestohlen. Ich fühlte das Verlorene nicht, nur das Verlieren.
In einen Straßenwinkel quetscht sich das »Café Camelot«, ein Duftfang aus Katzenpisse, Verwesung und Salatsauce. Was hier auf den Tisch kommt, wirkt frisch und grün, die Aroma-Glocke darüber aber müffelt mit Kompostnoten, mit Hautgout.
Obwohl ich in einen optisch überfrachteten Raum mit sperrangelweit offenen Fenstern blicke, sind es die Geräusche, die mir die Sicht nehmen: vor sich hin seierndes Gedudel, Musik für blockierte Ohren, das Wagenrattern, Quietschen von Stoßdämpfern, das Schimpfen, eine Pause. Und mitten darin die aus dem Geräuschemeer zu bergenden Funde: das Nachziehen der Schuhe bei Halbwüchsigen, ein einzelner Schlag der Flagge im Wind, die zwei Schläge der Turmuhr für »halb«.
Der erste ganze Satz, dem ich folge, stammt von dem Mann, der mit einer jungen Frau vor dem Fenster steht, die warme Garnierung auf meinem Teller betrachtet und sagt:
»Wir haben so viele Wahrheiten, dass wir uns dauernd neue sagen können.«
Ja. Die Liebe im Leben ist immer eine andere. Die Liebe im Pop singt gerade: »I love you more than ever.«
Das Mädchen in dem unfreundlichen Restaurant ist ein Schwellenwesen. Es trägt das hellblaue Kleidchen noch wie ein Kind. Doch im Augenblick, da es der Verantwortung für die kleine Schwester gerecht wird, wird das Mädchen eine junge Frau und hat die Kindheit gleich hinter sich. Sie sieht sogar nach den Zähnen der Kleinen, kaum ist das Essen vorbei, legt das Besteck für sie zusammen, erklärt ihr den Aufsteller auf dem Tisch, der den Federweißen ankündigt. Als ich ihr ein paar Postkartenansichten herüberreiche, folgt sie ernsthaft meiner Rede. Einmal geht ihr rehbrauner Blick in meinem sogar fast zu einem Lächeln auf, aber dann tritt die Serviererin dazwischen und fragt harsch:
»Und Sie wünschen weiter?«
Und wir blicken beide auf und wünschen weiter.
Auf dem Markt streckt sich ein Fisch aus der Kiste, tot, aber im Tod so besorgt, als erblickte er mit seinen hervorquellenden
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