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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Straßenmitte. Es ist vollkommen: Da schwanken die ungezügelten Rüpelsöhne der Bauern über die unbefestigten Straßen, die Felder strotzen vor Fruchtbarkeit, dazwischen nur einzelne Höfe, als die Ausläufer der feudalen Zeit, in der die Bauern noch um sich schlugen und sich das Proletariat ein Klassenbewusstsein leistete. Ein Fremder ist auch im Bild und fotografiert die Sonne im Hochformat.
     
    Im Zug: Da ist, trotz der herbstlichen Temperaturen draußen, eine Sonnenbräune im Gesicht der Mittvierzigerin, ein Goldglanz, der noch intensiver werden will, wenn sie lacht. Das tut sie freigebig, aber nicht aus läppischen Gründen. Sie spricht von vier Tagen Schweigen, von der »Reise nach innen«, lehrt Qi Gong, war am Meer und fährt leichten Herzens heim. Sie mit ihrer gesunden Haut, ihren Sommersprossen, den Fältchen auf dem First ihres Nasenrückens. Die Sonne scheint auf die grünen Wiesen. Da lehnt sie ihren Kopf beiseite, als legte sie ihn in die Wiesen und schläft ein.
    Ich schaue ihre Fußgelenke an mit den Mückenstichen, führe den Blick über das energische Knie aufwärts, die breiten Oberschenkel entlang, die auf dem roten Polster mit der Bewegung des Waggons schaukeln. Ich schaue diese Oberschenkel wohl versonnen an, weil ich an Ricarda denke, als sie auf der Tribüne über der Schul-Sportarena saß und mit mir auf die Trainierenden herabsah. Von den Oberschenkeln der Frau gegenüber blicke ich auf, in ihren gerade aus dem Schlaf heraus geöffneten Blick. Sie schaut mir direkt in die Augen, duldend. Als meine Verlegenheit verflogen ist, blicke ich wieder abwärts auf ihre Riemchensandalen, den zerfransten Saum ihrer Jeans, und sie senkt ihre Lider zurück in den Schlaf.
     
    Der Mabini Strip im nächtlichen Manila will an diesem Abend schön sein, schön wie die Sünde. Ein Mädchen in einem blauschwarzen, auf der Höhe der Oberschenkel abgeschnittenen Sarong, berührt mich am Arm und flüstert:
    »I saw you in my dreams last night.«
    Auf ihrem breiten Nasenrücken stehen kostbare Schweißperlchen. Ich trete zurück, mustere sie von den Augen bis zum Bauchnabel und hätte ihr fast die Linke auf die Schulter gelegt. Nicht so, Prolet!, liest sich ihr Gesicht, und nicht mit der Linken! Wie eine Boxerin pendelt sie mich aus und zieht sich ins Halbdunkel der Bar zurück.
    Ich gehe weiter. Der kleine Junge mit dem Holzkasten voller Zigarettenschachteln, aus denen er seine Glimmstengel auch einzeln verkauft, spricht mich an mit dem Satz:
    »Ich bin elf Jahre alt. Ein Junge in meinem Alter sollte um Mitternacht im Bett sein. Ich bin nicht mal um zwei im Bett.«
    Er heißt Edward, nennt sich aber Michael, weil doch sein älterer Bruder Michael vor zwei Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben kam. Dieser Bruder war sein Vorbild vom Tag seines Todes an. Sein Name soll leben! An seinen Zigaretten verdient der Junge in einer guten Nacht zwei Euro.
    Nun treffen wir uns also jede Nacht auf dem Mabini Strip und gehen zusammen essen. Manchmal bringt Michael seinen Freund Louis mit, auch ein Straßenkind. Immer haben sie ihre Fragen und tauschen sie gegen die meinen. Ich lerne die Nacht von Manila durch Kinderaugen kennen, die keine Kinderaugen mehr sind. Meistens sitzen wir in einem offenen Straßenrestaurant auf einer Bank, die Jungen mir gegenüber. Sie bestellen Pili-Pili, einen Gemüsematsch mit Erdnusssoße, und sie bestellen ihn für mich gleich mit, samt einer Flasche San-Miguel-Bier, und ich bin viel zu naiv, die Blicke der Einheimischen zu deuten, die mich manchmal so vorwurfsvoll treffen.
    Einmal tritt eine alte Bettlerin an den Tisch, sie ist auch heute nicht die Erste. Aber Michael erzählt gerade eine Geschichte von einem tagaktiven Gecko. Ich hebe die Hand, die Bettlerin abwehrend, um seinen Erzählfluss nicht zu unterbrechen, der gerade der Pointe entgegenströmt. Die Alte zieht weiter. Michael schließt seine Geschichte ab, sie endet mit dem Tod des Geckos. Als er fertig ist, entschuldigt er sich, nimmt eine Münze aus seinem Kasten und läuft hinter der Alten her.
    »Sie hat es wirklich nötig«, sagt er, an den Tisch zurückgekehrt. In der Erinnerung ist meine erhobene, abwehrende Hand gegenüber dem Gewinsel der Bettlerin nicht mehr auf den Tisch zurückgekehrt.
     
    Lichter laufen durch den Mimosenhain. Es liegen Kissen im Garten. Öllampen flackern im Glas. Eine Chinesin erzählt, sie rettete zwei Kätzchen aus einer überfahrenen Katzenmutter, holte sie ihr aus dem Bauch, bevor dieser

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