Momentum
Augen etwas, das noch unendlich besorgniserregender ist als sein eigenes Ableben. Es ist in zehn Tagen das erste Wesen, das ich so besorgt gesehen habe, besorgter als ein Fußballtrainer. Sein Gesichtsausdruck ist so, dass man ihm unmöglich Unrecht geben könnte. Evident ist er, vom Unglück selbst gemalt und beglaubigt.
Am nächsten kommen diesem Gesicht die Mienen der kleinen Jungen, die heute nachdenklicher sind als die der Erwachsenen. Vielleicht haben sich diese Gesichter in ihrem Knabenalter noch nicht oft genug für die Leichtigkeit entscheiden können, leben noch vor der Lässigkeit. Jedenfalls dringt der flüssige Stoff jugendlicher Traurigkeit selbst durch die heitere Atmosphäre. Manche Jungen sehe ich so mit verträumten Gesichtern einer spielerisch betriebenen Tätigkeit nachgehen. Sie lachen schnell, diese Gesichter, aber ebenso schnell fallen sie zurück. Die erwachsenen Männer dagegen haben diese sportliche, ungerührte, gewandte Leichtigkeit, in der nichts drängend Fragendes, nichts Unausweichliches aufkommen will. Sie sind am weitesten entfernt von dem Fisch.
Eine Musik setzt ein, eine Epoche gibt ihr Fluidum ab. Ist dies der Operettengeist der 1880 er Jahre, gespeist vom Atem einer Straße in Wien, besetzt mit Tüllröcken? Tatsächlich, diese Musik hat keine Zukunft, sie ist reine Gegenwart und Versprechen: Jetzt noch ein Frühling.
Die Musik wird – so pragmatisch sich auch das Leben um sie herum organisiert – zum Ausdruck des Unvernünftigen. Sie ballt stimulierte, doch verschossene Gefühle. Der Konzertbesucher, der den Allegro-Satz mit einem einzigen Blick geradeaus verbracht hat, legt im Adagio umständlich seinen Arm um die Schultern der Frau an seiner Seite, dankbar dafür, dass sie blond ist. Sie sagt:
»Als ich dir zusah, wie du die Musik hörtest, wusste ich, was ich an dir für mich verloren habe.«
Und er erwidert: »Es ist auch mein Verlust.«
Eine Frau, der man ansehen kann, dass sie ihr Leben lang leise gesprochen hat. Ihre Gliedmaßen sind dünn und ihre Knochen Geflügelknochen. In der Nacht erwache ich im Gefühl, dass dieses Gesicht weh tun würde, wenn es fehlte. Also stehe ich auf. Da sitzt sie in der Halle des Hotels in einem Sessel, die schlanken Beine über die Armlehne geworfen, den braunen Körper in ein Frotteetuch geschlagen, auf dem eine Dollarnote abgebildet ist. Die rafft sie zusammen, so dass ich sehen kann, wie nackt sie darunter ist, und ich erinnere mich an einen Satz, den ich bei Patricia Highsmith las, und sage: »Hier war ein Whisky nötig«. Ihre Lachfältchen entstehen in dieser Nacht, in diesem Sessel, in diesem Augenblick. Sie sollten bleiben, alles andere ging.
Auf der U-Bahn-Rolltreppe: Ein Pärchen raucht. Aber nur kurz, da schallt eine Stimme aus dem Lautsprecher: »Machen Sie sofort die Zigarette aus!« Schon kommt man durch die Tunnel, hetzt durch die Katakomben, den beiden hinterher. Aber sie bleiben, erstarren, küssen sich vehement. Zwei Beamte stehen erst ratlos um sie herum, tippen ihnen dann auf die Schultern, wagen kaum, sie zu stören. Mitten im Kuss ist Ruhe. Anschließend bezahlen sie ihre Strafe.
Die Frau mit den abschüssigen Lippen kommt und geht am liebsten ohne die geringsten Anzeichen, dass sie es wieder tun könnte. Ohne Verlangen welcher Art auch immer. Sie kommt, redet stundenlang, manchmal sogar mit Antipathie, liegt aber schließlich doch auf dem Teppich und lässt sich küssen, ja, dreht ihren Hals in jeden Kuss hinein mit der Hingabe einer Verlorenen. Manchmal setzt sie sich auf und erbricht ihre Küsse. Dann lässt sie sich durch den grobmaschigen Pullover die Brust küssen, die darunter erwacht. Kaum dringt der Atem aus dem Kuss durch den Stoff, wandert ihr Hinterkopf auf dem Teppich hin und her, und die kalten Augen verrohen in einem Verlangen, das jetzt auch über die Lippen kommt. Sie zieht die Luft hörbar ein, sie zittert. Sie wird gehen und tagelang nichts hören lassen, vielleicht gar nicht mehr kommen, und mühsam, wie zu einem ersten Mal, wieder überredet werden müssen.
Erst nach Monaten sagt sie, sie wolle mich besser kennenlernen. Ich öffne meinen Medizinalienschrank. Sie findet nichts dabei, liest stumm die Aufschriften auf den Fläschchen und setzt wieder alles auf Anfang:
»Liebe kann ich mir gar nicht vorstellen mit zwei solchen wie uns.«
Das gravitätische Schreiten der Kirchenorgel. Ein Blatt torkelt über die Straße. Beim Näherkommen altert die Frau in der
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