Momentum
stand sie im Schlafsaal des Gulags, in Ägypten vor der wogenden Masse der Demonstranten, in Bangladesch in dem Häuschen der erniedrigten Frauen, in England kroch sie gebückt durch die Düsterkeit eines dumpfigen Bauwerks voll Arbeitsgerät und Dreck, in China passierte sie die rostigen Kanister im Ölgeruch einer fiktiven Industrieanlage. Am Abend, nachdem sie noch kurz bei den Computermonitoren Taiwans und der Stecksystem-Skulptur Irlands vorbeigeschaut hatte, dreht sie mir den Kopf zu, dem Gedanken mehr als dem Gefühl folgend, und fragt:
»Wo war die Liebe?«
Da ist sie.
Ein Mann mit Kuppelbauch führt auf einem Wägelchen einen ganzen Baum aus Windrädern in den slowenischen Nationalfarben spazieren. Von Zeit zu Zeit bleibt er stehen und bewundert selbst die Schönheit seiner Geräte – niemand sonst tut es. Drum herum toben die Kinder, die sich erst kitzeln, dann Ladendiebstähle organisieren, und auf der Höhe des Parks widerspricht der Leichtsinn einer Hammondorgel den herausdringenden, schlecht sortierten Vogelstimmen.
Eine schöne Mutter mit einer zehrenden Liebe zur Liebe, wie man ihren Zügen ansieht, eine Hungernde, unter Mangelerscheinungen Darbende also, betrachtet die Ballettprobe immer interessierter, verliert aber ihre Kinder aus den Augen, als der Transvestit auftritt, der baumlange, verderbte Transvestit mit der kandiert wirkenden Haut. Sie fotografiert ihn mehrfach, wobei ihre Hände zittern. Als er es sieht, packt sie die Pocketkamera in die Tasche wie einen Schminkspiegel und angelt sich das Buch mit der freien Hand, schlägt auf und entblößt den rückwärtigen Text: »Nicht die raue Natur Alaskas, sondern die Vorurteile der Mitmenschen bringen die junge Lehrerin Anne Hobbs in große Gefahr.«
Manche Menschen sehen nicht aus, als seien sie im Liebesakt entstanden, andere gehen immer so verzückt durch die Welt, als hätten sie seine Freude nie ganz hinter sich gelassen.
Eine Frau der ersten Art sagt: »Wenn du ein hässliches Haus in deiner Straße hast, dann ist es besser, du wohnst drin. Dann musst du nicht darauf blicken. Deshalb bin ich lieber ich und habe mich nicht zur Freundin.«
Da also bleiben die eigenen Fingerabdrücke auf dem Glas. Man blickt durch sie hindurch in den Raum, jemand trägt eine kalte Zigarette im Mundwinkel, ein Filmbild zitierend, geht um den Tisch herum, an dem er essen wird, geht wieder herum, nimmt den Schal vom Hals, schlüpft aus dem Mantel, zieht den Pullover herunter, legt das Besteck zurecht, bereitet sich auf die Lektüre der Speisekarte vor. Der großmütige Wirt, der eilig Telefonierende, der langsam aufstehende Gast, ein Herr mit silbergrauen Haaren, seine Begleiterin mit rotbronzenen, ihre Hose aus Goldlatex, das metallische Paar: Willkommen, es ist acht Uhr, welcher Krieg wird gerade geführt, wer stirbt, wer kommt in die Zeitung? Der Schrecken: dabei und nicht dabei zu sein. Das Dabeisein aber übernimmt in dem Augenblick, da die Autorität am Nebentisch wieder in die Erzählung eintritt mit dem Satz:
»Und dann kam der nächste Tag.«
Charlotte ruft nachts an. Ich tauche aus dem tiefen Schlaf, weiß nicht, wo ich bin, was verlangt wird, aber mein Mund sagt ins Erwachen hinein:
»Ach, Lotte, du bist es! Wie alt bist du?«
Zwischen Mülleimer und Waschmaschine fällt die verbrauchte Zeitung mit dem Gesicht auf die Schlagzeile von gestern: der Sturz eines jungen Mannes aus dem Fenster eines Kinopalastes »Scala« auf den armenischen Bauern, dem man auf dem Operationstisch eine Niere gestohlen hat. Ich stecke mir in der Einsamkeit der Küche die zweite Hälfte der Banane vom Vortag in den Mund und kehre in das Wohnzimmer zurück, wo sich der Fisch im Glas inzwischen einmal vollständig um die eigene Achse gedreht hat. Dass die Menschen oft nur ein einziges Mal in die Zeitung kommen, und zwar als Opfer! Da stehe ich in dieser fremden Wohnung und starre durch das Fenster in die Aussicht, die auch keine ist.
Eine alte, sehr dicke, sehr nackte Frau erscheint am Fenster gegenüber, das Tonnengewölbe ihres Bauches reibend. Da tritt von hinten ein vollständig bekleideter Mann an sie heran und streichelt ihre Schulter. Es wird ein Striegeln draus. Sie öffnet einen Fensterflügel, Orgelmusik erklingt, barocke Chöre setzen ein, dann schreit sie wirklich in die Schlucht der Gasse: »Aujourd’hui! Aujourd’hui!«
Im alten »Scala«-Kino in der Pentonville Road, Nähe King’s Cross Station, besuche ich oft die
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