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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Double- und Triple-Features, esse in den Pausen im Vorraum Karottenkuchen und streite mich mit einem ehemaligen Offizier der indischen Armee, der hier sein Leben als Pensionär absitzt und die richtigen Filme aus den falschen Gründen besucht. Doch er sagt auch Sätze wie:
    »Manchmal gehe ich ins Kino. Aber wenn ich eine gute und ruhige Imagination habe, dann schließe ich die Augen und sehe nicht hin.«
    Eine unserer Auseinandersetzungen gipfelt in meiner Frage, ob er sein Leben als handlungsarm empfinde.
    »Handlung, Handlung!«, schimpft er gleich los. Die Handlung sei ja auch im Film oft nur eine Ablenkung. Man könne sich ja gern fragen, ob sie logisch oder glaubwürdig oder plausibel sei, das Eigentliche sei sie jedenfalls nicht.
    »Das Eigentliche, das ist der Fluss der Wahrnehmung. In ihm treiben die kleinen Sensationen, die sich einbohren, ein Detail aus der Einrichtung der Junggesellenbude, das Design eines BH s, ein Ausdruck genauso wie ein Messerstich, das spuckende Ventil in einer Industrieanlage, der Ruderschlag, ein Graffito, eine Uniform im Schrank, eine wiederkehrende Melodie, alles, was den Charakter eines Ereignisses bestimmt!«
    Der Film, meint er, werde zu einer dichteren Ordnung der Ereignisse, während schon die Arbeit, die Zeitung, der Verkehr ringsum für die wenigsten noch Ereignis sei. Ereignisse aber trügen sich oft in völlig windstillen, handlungsfernen Momenten zu, es seien Konstellationen, mehr nicht.
    Dann besuche er also im Kino nicht die Leinwand, sondern das Filmtheater, diesen Vorraum, die Bar, die Toiletten, die Zuschauertribüne.
    »Und ob! Wir wollen doch nicht so tun, als ob das Kino selbst kein Schauplatz wäre! Hier kommen ein paar Einsame hin mit ihrem Menschenhunger, den kann man ihnen nämlich nicht absprechen … die gehen nicht hin, weil sie alles haben, sondern weil ihnen was fehlt. In ›The L-shaped Room‹ ist mir das unlängst passiert … Der Abspann läuft noch, da springt ein Mann hinter die Absperrung vor der Leinwand und ruft ins Publikum: ›Hört mal gerade zu, ich muss mal eben sagen … so ähnlich … ich finde es ganz herrlich, mit euch diesen Film eben gesehen zu haben, mit euch allen gemeinsam, es ist so herrlich, wir sollten alle viel mehr miteinander unternehmen, gemeinsam, ich bin jetzt darauf gekommen …‹ Immer so weiter, er war wie erweckt, wollte, dass wir zusammenbleiben, irgendeine AG , Ferienkurse, Feste, Demonstrationen besuchen … In der kurzen Zeit hatte er sich all das schon fertig ausgedacht. Zuerst, als es noch so richtig peinlich war, haben alle fasziniert hingestarrt, ihm von den Lippen gelesen, wahrscheinlich wollten sie, dass er sich verheddert oder anfängt zu schreien und seine Mutter zu verfluchen oder so was. Schließlich hat dann keiner mehr zugehört, weil immer dasselbe kam. Trotzdem wusste niemand, was man nun mit ihm machen soll. Ich glaube, keiner hat gedacht, er ist gestört, nur hat sich auch keiner getraut, ihn beim Wort zu nehmen. Ein Schritt weiter nämlich, man stelle sich das vor … eine Antwort … wenn einer ›Ja‹ gesagt hätte, ›du hast recht, Bruder‹, das wäre vielleicht der Ausbruch einer Orgie geworden oder die Geburtsstunde einer Sekte … So war es nur einen Augenblick peinlich, und warum? Weil sie alle für einen Augenblick mit einem Bein in der Zustimmung standen und um ein Haar ›Ja‹ gesagt hätten. Aus Sehnsucht ›Ja‹, aus Menschenhunger.«
    »Und dann?«
    »Nichts. Irgendwann ist er wieder über die Absperrung geklettert, hat sich vorne an der Bar ein Bier bestellt und bloß so vor sich hin gesehen, ganz unscheinbar. Gesagt hat keiner was. Es wollte niemand mit ihm sprechen. Und er selbst ist auch nicht noch mal darauf zurückgekommen. So ist er also allein geblieben. Mehr allein als vorher.«
    Nachdem der alte indische Offizier eine Weile langstielig vor sich hingesehen hat, beißt er in seinen Karottenkuchen. In der Sehnsucht, habe ich mal gelesen, verbraucht das Gehirn mehr Kalorien.
     
    Einer steht im Kino auf, das Vorprogramm läuft noch, dreht sich zum Saal, breitet auch wirklich die Arme aus und ruft:
    »Die Welt der Bilder, der inszenierten Realität, ist voller Arrangements, die Erleuchtungen verheißen, lauter Momente der unvergesslichen, tief eindringenden Plötzlichkeit und Dichte, aber hier schließen sie sich zusammen zur Familie der belanglosen Effekte. Die Erscheinungen liegen also in den Zwischenräumen und Übergangszonen …«
    »Halt die Schnauze«,

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