Momentum
hoch in einen Himmel voller Vögel. Auch auf den Fahnen sind Vögel dargestellt.
Manche Männer tragen an diesem Abend ihren Sarong. Sie gehen dahin unter dem metallischen Räsonieren des Muezzins, der aus der Chromstahl-Zwiebel der Kuppel lamentiert. Vorbei schreiten, in Aubergine-Farbe gehüllt, auch die Grüppchen der Mädchen, vorbei knattert auch ein Motorrad. Die Frau, die hinten seitlich auf dem Sozius sitzt, ruft etwas in die leeren Straßen.
Mutter und Kind auf der Bank schlenkern gemeinsam mit den Füßen. So anstrengend es ist, eine Brust auszusaugen, so anstrengend ist es, sie ausgesaugt zu bekommen. Die ersten Lichter gehen an. Der Xerox Copy Service strahlt blau gleißend. Nebenan wird das Feuer angesetzt für die Satays aus Vogel- und aus Hundefleisch.
Das Kind hat jetzt von der Mutter abgelassen. Der Ausschnitt lappt links herunter und gibt die ausgelaugte Brust bis zur Spitze frei. Eine Frau mit zwei Bananenstauden in den Händen kommt vorbei. Der Mann vom Xerox-Laden geht ihr entgegen, sie stehen allein in der Mitte der Straße, während aus dem Fotokopierer im Laden blaue Blitze schlagen. Der Mann sagt der Frau etwas. Sie beißt sich in Gedanken auf die Unterlippe, ehe sich – ja! – ihr Lächeln breitmacht.
In diesem Sog des Augenblicks ist alles Sog. Der Anschlag auf dem Klavier: reine Gegenwart wie das Zucken im Auge des Geckos, die Kopfwendung der Bäuerin nach dem Geräusch von draußen, das Auffliegen der Hand, die ein Insekt abwehrt, doch ablässt. Einmal teilt man dir mit, dass der Erdball im All schwebt, dass ein Blinder nichts sieht. Ein andermal wird es persönlich erfahrbar. Eines Tages wird man den Duft der Haut eines anderen inhalieren, wird wissen, wie Asche schmeckt, wird angesteckt von einer Tonfolge, einem Luftzug unter Stoffen: lauter Momente des gespannten Interesses, Momente, in denen man an die Tatsache des eigenen Lebens bewusstlos gefesselt ist? Es ist eher so, wie wenn man in einem Spiel den Ball treffen muss und in diesem Augenblick ohne Liebeskummer, ohne Krankheit und ohne Zukunftsangst ist. Man ist vielleicht in diesem Moment von allen Lebenszusammenhängen berührt, kann aber in ihnen, solange sie dauern, nicht untergehen.
Am Horizont die zerfetzten Fächerblätter der Palmen, ein trübsinniger Himmel, die Landschaft in Moll. Auch kleine Blütensträucher stehen ausgefranst wie gebrauchte Zahnbürsten. Das Fahrrad wird nicht abgestellt, sondern platt in den Sand gelegt. Man sucht die Landschaft, in die man läuft. Man will keinen Gebrauch von ihr machen, während man wie benebelt einen ganzen Tag lang denselben Ausschnitt ansieht, ein paar Schritte tut, aber nie weit genug, um den Horizont zu verschieben, während die Vögel nicht aufhören mit ihrem Gesang, der keiner ist, sondern eher klingt wie das Klackern der Würfel in einem Lederbecher. Andere Vögel imitieren Industriegeräusche, das Quietschen ungeölter Türen, Warnsignale elektronischer Anlagen, Klingeltöne, die nicht klingeln, sondern schnarren, grollen, murren. Jemand trägt etwas Vergessenes aus einem Laden hinter mir her auf die sonnige Straße. Wie viele Bücher würde es füllen, wollte man alle Vorgänge im Kopf eines Menschen aus einer einzigen Stunde notieren! Und der Baumstamm steht wie ein rissiger Korken, und vom Gepiesel an seiner Flanke löst sich ein Junge und sagt zu einem anderen, der sich auch noch den Hosenstall richtet, etwas Gemeines. Und ein Schatten löst sich aus der Kindheit, es ist die Silhouette des Gemeinen, des Bösen, der da droht: »Willst ’n Dötsch mit der Moffakette?«
Als ich im Dschungel von Borneo nach langem Reisen den Ort erreiche, den mir die beiden Bootsleute auf dem Plan gezeigt hatten, ein Krakel bloß, eine Einzeichnung, da kann ich vom Wasser aus kaum mehr als ein paar Hütten erkennen. Der Geruch von Petroleumlampen ist in der Luft, und die Motorsägen singen.
Wir legen an, der Maschinist hängt mir mein Gepäck über die Schulter, und ein indonesischer Junge auf dem Steg fühlt sich gleich für mich verantwortlich. Er entwindet mir meine Tasche und will wissen »Wohin?« Ich nenne den Namen eines Gästehauses. Der Junge aber sackt mit dem Gepäck am Straßenrand zusammen, hebt den Zeigefinger zu einer Scheibenwischerbewegung vor dem Gesicht und sagt »tidak«: Nicht! Nein! Auf keinen Fall! Seine Begründung ist heftig und unverständlich, er unterstreicht sie mit abwehrenden Händen.
Wir haben das kleine Indonesisch-Deutsch-Wörterbuch
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