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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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ihr jetzt den Ton abdrehte, müsste man denken, sie zetert. Ihr Lachen enthält etwas Lächerliches. Einmal erklärt sie den Kindern des Dschungels, dass die Größe und das Geschlecht des Klatschenden das Geräusch des Klatschens nicht beeinflusst. Sie hat denselben Kopf in den Dschungel mitgenommen, mit dem sie in Idaho an ihrem Beruf und an den Männern scheiterte.
    Aber hier trägt sie eine paramilitärische Camouflagehose und spricht von der Rettung eines Waldes, den sie wohl insgeheim auf die gleiche Weise aufgegeben hat wie sich selbst. Auf einem alten Foto ist sie sprühend, eine junge Frau auf einem Steg, mit einem Zopf und einem Lachen, das Geiseln nehmen will. Heute Abend wurde in dem Camp der Holzarbeiter eine kleine Bühne aufgerichtet, und jemand legt eine Musikkassette ein mit der Aufschrift »Romantique Golden Classics« und der Beschreibung: »Features the special approaches to life expressed through music in orchestral colour and harmonious combination of melodies«.
    Das ist ihre Musik, und prompt muss sie als Erste die Bühne entern, wenn auch allein. Denn als der Mambo erklingt, will sie die Hände an den zu langen Armen bewegen wie Flimmerhärchen. Das tut sie, vom Licht gut beschienen. »Beschissen«, sagt einer, »lächerlich« ein anderer. Ihr Tanzen ist so unangenehm anzusehen, weil sie entschieden Schritte tut, aber nach ein paar wenigen nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Diese ins Nichts geworfene Anstrengung wirkt so grotesk wie stumpfsinnig. Sie umarmt das Ideal eines Tanzes, das Idol eines Mannes, der hier stehen und sie ergänzen müsste, und der schon deshalb nicht denkbar ist, weil ihr Tanz ist, wie er ist, und weil er so weit weg von ihrem Körper wogt. Sie erhöht die Dosis, gestikuliert mit dem Schoß, sie lächelt vom Schambein an aufwärts, sie möchte hier Hure sein, die Mimik des Begehrens aufrechterhalten in einer Kühnheit, die ihr nicht steht, geadelt von einer Öffentlichkeit, die ihr lieber fernbleibt und die ein wenig auseinanderweicht, als sie die drei Stufen von der Bühne wieder heruntertaumelt. Doch lacht sie einfach weiter ihr überdehntes Lachen, lacht es so unbeantwortet, wie man es nur mit einem neuen Tanz wegwischen kann.
     
    »Kennen Sie das denn nicht?«, frage ich den Schlohweißen mit der Baseballkappe, als wir uns müde in der Wartehalle eines Flughafens auf benachbarten Stühlen finden und synchron aus dem Halbschlaf hochgeschreckt sind. »Sie liegen im Halbschlaf auf dem Bett in einem Zimmer. Eine Tür knallt, und in Ihrer Vorstellung treten Sie durch sie hindurch, und durch die nächste mögliche, vielleicht eine aus der Erinnerung, treten in einen Raum der Kindheit, des Rauschs, des Traums, einen, in dem Sie liebten, einen, in den Sie für eine Tracht Prügel geführt wurden, ein Arzt-, ein Prüfungszimmer, Räume folgen auf Räume, dann knallt wieder eine Tür, Sie treten durch die letzte und gelangen wieder in genau den Raum, in dem Sie sich gerade befinden. Also in diesen hier.«
    Der Alte ist beim Zuhören diesem Ritual gefolgt: Sechsmal mit der Zahnleiste auf den Kaugummi hacken, einmal seufzen.
    »Ehrlich gesagt«, sagt er ehrlich, »hab ich keinen Schimmer, wovon Sie reden.«
     
    Ging barfuß in den Garten und sah mir die Kohlweißlinge an, die im Formationsflug aus der Kindheit heranrauschten und über die Skabiosen hereinbrachen. Die Gegenwart, das ist die entzogene Zeit. Dauernd lebt man auf diese Gegenwart zu, den Augenblick, in dem sich die äußere Zeit irgendwie unscharf mit dem persönlichen Erleben deckt. Und dann ist es im Hotelgarten: Während der Mann telefoniert, fällt die Wange der Frau auf seinen Unterarm, er kost sie abwesend, sie streckt sich, ihre Hände recken sich in die Krone des hohen lila Rhododendron, dessen müde Blüten gleich auf sie niederregnen. So sind sie für sich und mich.
     
    Mit Schrader war es immer anders, weil er wunderlich war. Einmal treffe ich ihn in der Stadt, und er sagt: »Unterbrich mich nicht, ich schreibe an einer Postkarte.« Ein andermal gehe ich mit ihm durch eine Winterlandschaft. Da legt er sich auf dem Rücken ins Feld und sagt: »Ewiger Schnee, ewiger Schlaf.«
    Heute sitzt Schrader auf einem verrotteten Bauernhof und trinkt alle Flaschen Bier in einem Kasten aus. Sein Freund ist Jupp, mit dem er jeden Morgen früh in das Gehölz steigt, um Bäume zu schlagen. Jupp ist ein Alkoholiker, aber er hat Schrader seinen letzten, einen ledernen Mantel geschenkt. An jedem zweiten Tag muss

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