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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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ein kleiner Lichtquader Hütte, schmale Verkehrswege wie die Adernverläufe unter der Haut.
    Der Schrei der spielenden Kinder in der Ferne ist nicht lauter als das Nahen der Mücke am Ohr. Die Letzten unten am Fluss schlagen die Wäsche auf den Steg, schäumen sie mit Kernseife ein, agieren wie ein Maler, der die Leinwand grundiert, dann bürsten sie sie, begleitet von ihrem Redestrom, zum Kichern und Gnickern des Wassers an den Pfosten. Noch springt ein Junge, auf dem Scheitelpunkt seiner Flugbahn in eine bizarre Pose fallend, vom Steg ins schwarze Wasser, taucht schweigend auf und macht für die Mädchen am Ufer das Krokodil nach, wie es sich durch das Brackwasser schlängelt. Sie werfen mit der Bürste nach ihm. Er angelt sie sich, rückt sie nicht mehr raus, die Mädchen schicken Steinchen hinterher, er taucht. Eins gibt das andere. Es ist die Kindheit fremder Menschen, in der ich sitze. Ich blicke in die Erzählung, die in fünfzig Jahren irgendwo angestimmt wird und aus der ich längst entlassen sein werde: »… und wir badeten abends im Fluss.«
     
    Eine Alte hockt über einem Straßengraben. Über ihrem Gesäßknochen spannt sich die Haut so dünn und faltenlos, als habe sich der Hintern im Lauf der Jahre von innen aufgezehrt. Ihre Linke arbeitet mit den Fingerspitzen in der Tiefe ihres Darmausgangs. Ihre Züge spiegeln sich im Wasser unter ihr, bis die Zeichnung verflattert ist. Sie zittert, kommt zur Ruhe, wendet, ganz Mater dolorosa, die Augen himmelwärts. Aus ihrem Schoß steigen Heiligenscheine auf.
     
    Geziegelte Mauern zu beiden Seiten der Straße. Dahinter unter Bäumen verborgene Häuser, dazwischen steinerne Grotesken: Affen, Frösche, denen man in kleinen Denkmälern huldigte, von grünschuppigen Flechten bedeckt, von Moosen und Wildkräutern überwuchert. Der Fremde im Inneren eines der Häuser, im Salon, lacht unablässig, obwohl er traurige Sachen sagt. Er tut es aus dem einzigen Grund, um in seiner Freundlichkeit keinen Augenblick nachzugeben:
    »Lache, wer kann, weine, wer muss!«
    Er lacht, Jacqueline lächelt nur, aber ihr Lächeln ist gerade viel älter als sie selbst.
     
    Als ich auf dem Bug des Bootes lagere, den jungen Orang-Utan im Schoß, da hat er es gern, wenn er seinen Hinterkopf in meinen Handteller legen kann. Geht das nicht, so legt er sich selbst die lange Hand in den Nacken und blickt in den Himmel wie ein Sommerfrischler auf einem Bild von Renoir. Sein Genital liegt seitlich auf seinem Schenkel, ganz selbstbewusst stellt er es aus. Als sich eine Stechmücke daraufsetzt, nehme ich ein Stöckchen, um sie zu vertreiben. Dabei berühre ich das Genital des Affen ganz leicht. In seinen Augen rastet etwas ein, es ist wie ein Stehenbleiben im Interesse. Dann schüttelt er die Berührung ab und setzt sich auf, als kehre er seufzend zurück zum Ernst des Lebens.
     
    Ich wandere über die im Sonnenbrand aufgesprungene Lehmhaut der Erde. Manche der Mädchen haben zum Schutz das Hemd halb über den Kopf gezogen und schauen müde in die immergleiche Wohlstandsphysiognomie des Fremden, der ihnen durch den Staub entgegenkommt. Am Abend vor dem Vollmond ziehen die Frauen mit Körben auf dem Kopf durch den Hohlweg. Heute bekommen die Statuen Klebereis auf Bananenblättern und frisches Obst, aus den Reisfeldern klickert ein kleiner Wasserlauf, eine Alte trägt bemalte Holzfrösche im Korb vorbei. Jemand wäscht sich, es ist Montag. Die Palmen biegen sich im Wind, ein Hund, ein Huhn, ein Radio, ein Schlurfen von Schritten. Die Nacht breitet ihre Intimsphäre aus.
    Auf der Anhöhe über dem Bachbett erscheint am nächsten Tag ein Krieger. Mann oder Knabe, jedenfalls bunt und golden aufgemacht wie in der Nussknackersuite, agiert er mit ausladenden Handbewegungen, mal mit pointierten, scharfen, mal mit fahrigen Verbiegungen des Körpers, die Augen aufgerissen ohne Lidschlag. Es ist nicht die Tugend der Tapferkeit, die er verkörpert, es ist die Panik, die in Devotion übergeht. Er tanzt, als habe er den Mund voll, kokettiert mit seiner Schwäche, jetzt paralysiert vor Entsetzen, verzweifelt um Teilhabe am Unsichtbaren werbend, schließlich in der Hockstellung, in der Luft sitzend, doch immer noch tanzend. Durch seine Maske hindurch kann ich ihm in sein Auge sehen, in diesen schmalen schleimigen Schlitz, in dem unstet seine winzige Pupille auf und ab wandert.
     
    Wenn sie lacht, schließt sie sekundenlang die Augen und öffnet den Mund zu einem hässlichen schrägstehenden Krater. Wenn man

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