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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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zwischen uns, das nicht viel taugt, nicht auf den meisten der über neuntausend Inseln des Landes, wo es eigene Sprachen und Dialekte gibt, und auch sonst nicht, hat es doch zu beiden Sprachen ein unsicheres Verhältnis. Der Junge nennt das Gästehaus beim Namen und zeigt im Wörterbuch auf »terkutuk«. Ich lese die Übersetzung: »verflucht« und nicke.
    Der Junge zeigt auf das deutsche Wort »die Rüste«. Was kann er meinen, da doch gerade weder Tag noch Nacht zur Rüste gehen? Er legt seinen Kopf auf die gefalteten Hände, fasst sich um den Leib. Ich soll bei ihm schlafen. Er gibt mir die Hand, zeigt auf das Wort, das gleichermaßen »liebkosen« und »abwischen« heißt. Ich zeige auf »Neckerei«.
    Er zeigt »Beruf«. Ich zeige »Schriftsteller«. Er zeigt auf »die Denkkraft«, den »Freimut«, den »Federkampf«. Ich bestätige alles. Er fragt, ob ich … das Wort fehlt … ob ich in Deutschland, er zeigt im Wörterbuch auf das Wort, also ob ich in Deutschland einen »Strahl« habe? Ich weiß nicht. Einen Strahl? Wir sehen uns an, stumm, ernst und ratlos. Aus dem Gesichtsausdruck ergibt sich nichts. Ich wische mit einer Geste die imaginäre Tafel zwischen uns wieder sauber, zeige auf ihn, blättere zurück zu »Beruf«. Er antwortet ohne Zögern und zeigt auf »Fortpflanzung«.
    Da also sitzen wir, tief ernst, der eine hat einen »Strahl«, der andere ist von Beruf ein »Fortpflanzer«. Ja, bei diesem möchte ich schlafen. Hinter ihm mache ich mich auf den gemeinsamen Weg in den tropischen Regenwald, sehe ihn nicht nur in den Busch, sehe ihn vielmehr seiner Wege gehen, und das heißt auch, ins Dickicht der Sprache.
     
    Ich liege am Boden. Der Wald ist tropisch, es regnet. Er entfaltet seinen Namen. In der Natur ein Rauschen, Atmen, Brechen, Reißen, Reiben, Klopfen, Splittern, Tröpfeln, Scharren, eine große Konversation. Alles antwortet. Der Klangteppich des Urwalds ist wirklich ein solcher, er kennt nur eine sparsame Verwendung von Solostimmen. Ich flüstere die Namen der Orang-Utans aus dem Camp wie ein Gedicht:
    Supinah, Pola, Bagong, Dart und Brucia.
    Siswajo, Princess, Siswi und Davida.
    Das Mädchen aber, das von den Affen mehr weiß als von der eigenen Familie, heißt nach seiner Heimat: Bukitravi, und will, dass bis zu seinem Lebensende niemals auch nur ein einziges Foto von ihm gemacht werde. So, sagt sie schon heute, will sie sterben, als eine, die nur in der Erinnerung fortlebt, nicht auf Papier. Ich kann den Blick nicht von ihr wenden. Ihr Medium ist flüchtig und in der Tat nicht fotografierbar, es heißt »Charme«.
     
    Nachts baden die Frauen immer an derselben Bucht des Flusses. Die Männer fahren allenfalls mit dem Motorrad vorbei und erkennen manchmal ein Profil, auch mal die Silhouette einer Alten. Es tanzt das Licht des Scheinwerfers, so wie das Motorrad über den holprigen Weg kommt, immer nur ganz kurz auf etwas Weiblichem. Wenn man weiterfährt, liegt auch ein dunkles stehendes Gewässer unter der Brücke, überwölbt vom Nachthimmel. Nackte Frauen tauchen darin unter, spülen sich ab, winden sich im Mondschatten, und aus dem Gestade ragt ein einzelner solcher Leib wie der Körper eines abgebrochenen Cellos und rührt sich nicht, ein nackter, nasser Götze.
     
    Ich freunde mich mit einer indonesischen Frau am Rande des Regenwalds an, wo die Bananenblätter beim Vorbeigehen die Gesichter streifen. Zu Hause würde ich mit ihr ins Kino gehen, hier sitze ich mit ihr am Bach im Sand, werfe Steinchen hinein, freue mich unserer gemeinsamen Entscheidung, von der Landschaft keinen Gebrauch zu machen, rede dabei beharrlich und halb abwesend vor mich hin. Zwischendurch kommt ein Händler und spielt uns etwas auf einer handgeschnitzten Flöte. Dabei sehen wir uns scheu an. Dann kaufe ich ihr die Flöte. Dann wirft sie sie ins Wasser, weil sie meint, das Lied solle darin bleiben und ins Meer treiben.
    »Das sind ja Sachen«, sage ich, weil ich das noch nie gesagt habe.
     
    Die Nacht senkt sich über ein Lager am Dschungelrand. Unten am Steg schreien die Waschenden. Jemand pfeift. Das Morsealphabet der Vogelrufe setzt ein. Der Generator springt an. Die Gebüsche verdichten sich, wo Gesträuch war, liegt jetzt diese breiige Dunkelheit, mit schweren Lasuren übermalt. Die Transparenz dieser Finsternis macht fühlbar: Noch ist nicht Nacht. Noch ist die Zeit des Verlierens, des Abstraktwerdens. Die Lebensräume schieben sich zusammen, in ihnen flammen die Interieurs auf, Baracken-Innenräume,

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