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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Jahre 1976 wirbt. So wird der halb fordernde, halb forschende Blick des Jünglings mit dem Blumenkranz um den Kopf zu einem Impuls für die Dörfler, die von hier aus ihre Reisen antreten. Dieser Blick wird später immer die Stimmung assoziieren, die mit dem Aufbrechen verbunden war, und das nur, weil das Plakat nicht reiste, seinen Zweck überlebte und blieb. So blickt man schließlich auch selbst nicht in den Blick des Jünglings, sondern in den der Reisenden, die in ihm verweilten seit 1976 . Er trifft die junge Frau mit den spiegelglatt rasierten Schienbeinen, trifft den halbgaren Freund an ihrer Seite. »Guck mal«, sagt der, und sie wendet sich dem Tizian zu mit dem Gesicht einer Maischolle, »der sieht aus wie von der Plasmakanone getroffen.« Da reden gerade drei Jahrhunderte durcheinander.
     
    In diesem norditalienischen Zug bin ich offenbar der Einzige, der bleibt. Hausfrauen, Marktfrauen, Büroangestellte, Arbeiter und Bäuerinnen kommen und gehen durcheinander, entfalten für kurze Zeit ihr Milieu im Waggon und sind ein paar Stationen später wieder auf und davon. Ihre Atmosphäre aber reist noch ein wenig mit. Wie glücklich schätze ich mich, sie alle kommen und gehen lassen zu dürfen, zu sehen, wie sich die Täler auf die Anhöhen vorbereiten und die Anhöhen auf die Matten und wie die Hochebenen in die Senken fallen mit den Sumpfdotterblumen unten am Flüsschen.
    Die Arbeiter machen letzte, abgetakelte Scherze, bevor die Arbeit beginnt. Wenn sie aus dem Fenster blicken, beobachten sie nicht, sondern schauen sich selbst an, in der Spiegelung der Scheibe vor dem Nebel, der gerade über dem Bach aufsteigt. Ich dagegen schließe die Augen nur in den Tunneln, darf immer sitzen bleiben wie ein Kind und den Erwachsenen draußen nachsehen, wenn sie in den Arbeitstag schlendern.
    Auf einer kleinen Station ist der Bahnhofsvorsteher von außen an das Fenster eines Häuschens dicht bei den Gleisen getreten. Gleich auf der Fensterbank, von der Sonne beschienen, steht ein Vogelbauer vor der wehenden Gardine, ein Stieglitz darin und ein Kanarienvogel, die unter dem Blick des Beamten von Schaukel zu Schaukel hüpfen und flöten. Als sich die Gardine öffnet und ein Greis erscheint, sagen sich die beiden Männer, dass dies ein schöner Tag sei und dass die Vögel das auch wüssten und dass, mit Blick nach dem Himmel, auch die Temperaturen für die Jahreszeit … Im Anfahren des Zuges schwinden die Stimmen der Männer zuerst, dann die der Vögel, entgleitend bleibt das Bild intakt und in ihm der Wunsch, festzuhalten am leeren Tag.
     
    Beim Überqueren der Straße im Frühling. Es ist ein anderer Duft in diesem Atemhauch, der durch die Häuserschluchten geht. Das Blumen-Bukett übernimmt, Zitrusnoten kommen, woher? Und einmal riecht es mitten in der Großstadt nach einer Kuh. Und jetzt nach der Gummierung britischer Briefumschläge, die ihrerseits nach dem Körperpuder der Damen von Ascot riechen, nach High Tea und Clotted Cream, nach Thymian … so geht es immer weiter. Und mitten in der Freude am wiedergefundenen Duft erhebt sich die Freude am wiedergefundenen Satz:
    »C’est ne pas toi, que me force, c’est la vie.«
     
    Die Radiostimmen sind so laut und impulsiv wie die Plakate eindeutig, die Schamlosigkeit, die gute Laune, die Selbstgewissheit der Rede, alles ist so effektvoll, und Schauwerte bestimmen das öffentliche Leben. Doch andererseits küsst die junge Frau mit der Rallye-Brille ihren geduldigen Jungen inbrünstig. Sie fertigt ihren Kuss wie eine Bastelarbeit, setzt ab, hält seinen Kopf in beiden Händen, mustert ihn, als müsse er sich unter dem Kuss verändert haben, setzt den Kuss fort. Er ist eben nicht fertig. Aber er vollendet sich leise. Jetzt betrachtet sie ihr Werk ein zweites Mal und das mit Genugtuung bei dem Gedanken: Ich hab dich in mich verliebt und mich in einem Kuss verewigt.
     
    Man spricht es nicht aus, aber die Ermüdung des Menschen am Menschen bildet das Panorama, vor dem diese Szene spielt. Die Mitwirkenden in der abendlichen Gesellschaft auf der Straße blicken erschöpft aneinander vorbei. Sie wollen nichts mehr voneinander und versprechen sich nichts davon, sich anzusehen. Sie waren schon überall. Um wo anzukommen? Ein Krakel ist eine Malerei, ein Geräusch ist eine Musik, ein Donnern von Effekten ist ein Film – und ich, sagen sie, und weiter?
    Die jungen Frauen mit den Initialen der Designer auf den Brillenbügeln, die Greisinnen, die in den Luftraum über dem

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