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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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Schrader die Abwässer, die durch die Gitter der Abflusslöcher in die Stube quellen, mit dem Schlauch wegspritzen.
    Eine Etage über ihm wohnt Norma mit der ehemals dreifach gebrochenen Nase. Sie war zwei Jahre lang Schraders Freundin und Geliebte, sie hat ihm im Bett »alles beigebracht«, sagt er. Er wird sie noch lieben, wenn sie alt und fleckig ist. Nun, da er alles kann, hat sie ihn aus der oberen Wohnung vertrieben und liebt dort einen anderen Mann, den Schrader »Forkel« nennt. Sie liebt ihn ausdauernd und lang, sie schreit und krakeelt, während sie es tut. Schrader sitzt unten, den Schlauch in den wehrlosen Händen, würde so gerne alles noch einmal lernen, dann lässt er den Schlauch fallen und schlägt sich mit beiden Händen gegen die Schläfen, wie ein Kind, das dem Schwein beim Schlachten die Ohren zuhält.
     
    Mit der Rauchenden, die sich in der Sommerhitze in einen hinteren Hotelhof zurückzieht, dringt aus der eisig kunstgekühlten Halle die Luft ins Freie. So häufig, wie sie kommt und geht, ist es ein Ein- und Ausatmen, und dieses Schaukeln zwischen den Luftströmungen allein bringt Bewegung in das Brüten der mittäglichen Stadt.
    Wir haben den hinteren Teil dieses Hofes besetzt wie ein fremder Stamm. Auf den Sitzen und Lehnen der benachbarten Stühle lagern unsere abgelegten Kleider, ein Sammelsurium stilistischer Absichten. Während alle beginnen, über die Mode zu spotten, die sie mal trugen, und während sie das so behandeln, als sei ihnen damals der Durchbruch zum guten Geschmack, dem heutigen also, nicht gelungen, stellt sich die Frau mit der Scherenschnitt-Silhouette hin und findet, alles sei gleich weit weg bis zum Geschmack, den man gar nicht einen »guten« oder »schlechten« nennen könne.
    Die Rauchende, auf die gerade niemand achtet, trägt ein Sweatshirt, bedruckt mit dem Porträt von Monica Bellucci. Es hat einen Halsausschnitt, so groß, dass er immer wieder über eine Schulter rutscht und diese freigibt, rund und glatt wie sie ist. Wenn sie den Blick auf ihrer Schulter spürt, zieht die Frau den Ausschnitt hoch, warum? Da sie außerdem große Brüste hat, wölbt sich der Mund von Bellucci, dass es aussieht, als komme sie vom Zahnarzt. Kaum ist die Zigarette zu Ende geraucht, stellt sich die Frau vor ein verspiegeltes Seitenfenster, zieht eine Nagelschere heraus und schneidet sich freihändig den Pony. Die schwarzen Haarspitzen fallen auch auf Monica, die jetzt verbeult, schraffiert und beschmutzt in die Welt starrt.
    »Ein Sträfling«, erzählt jemand im Fluss einer Erzählung, der ich nicht gefolgt bin, »wird nach zehn Jahren Haft entlassen. Man fragt ihn: Was ist deine größte Sensation, was überrascht dich am meisten?«
    Die Frau in dem formlosen Sweatshirt fegt sich geistesabwesend das Schnitthaar von den Brüsten. Dann nimmt sie Monica ganz etepetete noch Haar für Haar aus dem Gesicht, ist aber dabei ganz beim Gespräch.
    »Und der entlassene Sträfling erwidert: Die Silhouette der Frau.«
     
    Sie sitzt nackt an meinem Schreibtisch, die hochsitzenden Brüste schwer, den Rücken gebeugt, die Schulter eine schimmernde Kuppel, die sehr schmale linke Schreibhand in den Stift fließend, der das Papier so langsam streift. Sie schreibt ungelenk. Als Kind hatte man ihr das Linksschreiben abgewöhnt. Sie schrieb schlecht und unwillig mit rechts, sah es deshalb als Schritt in die Mündigkeit, es später wieder mit links zu praktizieren. Doch schön kann sie es mit keiner ihrer Hände.
    Ihre Silhouette, die einer erwachsenen Frau in ihrem Glanz, ist in der Anschauung allein schon eine Freude, und auch jenseits der bloßen Betrachtung will ich fühlen, was diesen Körper beherrscht, was ihn gebraucht und was ihn missbraucht, die Krankheit, die ihn blass und wehrlos machen könnte, seinen Muskelkater, seine Menstruationsbeschwerden, sein Gähnen, seinen Krampf in der Lust, sein Bewusstsein für diese Einheit Frau. Sie aber hebt im selben Augenblick den Kopf und sagt mit schläfrigen Augen:
    »Nun schau dir den scheußlichen Körper an, aus dem dies Gekrakel kommt.«
     
    Im Wartesaal eines kleinen italienischen Dorfbahnhofs, in dem eine freistehende Heizung mit fünf Rippen für das Minimum an Wärme sorgt, das einer auch braucht, wenn er in Gedanken schon abgereist ist, hängt zwischen Fahrplänen und Tariftabellen, Diakonie-Verlautbarungen und Aufforderungen zum Blutspenden die braun-weiße Reproduktion eines Tizian-Bildausschnitts, ein Plakat, das für eine Ausstellung im

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