Momentum
Intelligenz ein, um seine Dummheit zu erhalten, wenn nicht zu vertiefen, und wenn er einen Fluss malen will, dann wählt er den Buntstift, den er schon als Kind für die Farbe des Wassers wählte.
»Klug sein«, posaunt er, »das könnte ich auch, ich überlasse es den Schwachköpfen. Mir reicht es völlig, am Ende meiner Tage von Zeit zu Zeit einmal eine Art Einsicht gehabt zu haben.«
Dann beugt er sich mit Kinderaugen über eine Kiste mit Fotos aus Illustrierten.
»Warte mal, ich hab doch noch eine Aufnahme von Sophie Marceau mit Gänsehaut. Hier. Schön nicht?«
Tatsächlich. Sophie Marceau auf einem Bootssteg. Sie schaut mürrisch. Ihre Haut fröstelt dem Blick entgegen, als wüsste sie: Sie sitzt in der äußersten Ecke, in die sich das Begehren dieses Mannes zurückgezogen hat.
Ach, Großstadt. Der Trompeter unter den Arkaden, das Trommelfeuer der Radiostimmen, der Hupen. Dachgärten, aus denen sich die Satellitenschüsseln blähen, die greinenden, nölenden Stimmen der debattierenden Rentner, die Clique rund um den Kiosk, die Stehtische, die sozialen Entzündungsherde. Mitreißend, die Schamlosigkeit der guten Laune, die Selbstgewissheit der Rede, der Überzeugungen, die von keiner Transzendenz angekränkelte Diesseitigkeit! Wie all das vibriert, wie es schwingt mit der Zartheit der Beziehungen, wie es dahingleitet in der Strömung zwischen den Unterwasserklippen. Sieh mal, das Glück im souveränen Zeitvertreib, die Güte als der Versuch, die anthropozentrische Schwerkraft auszuschalten, das Flutlicht in den Augen der Bedürftigen!
Gegen Mittag gehe ich wieder hinunter zum Po, Lungo Po. Aus einem Radio quengelt ein Saxophon so träge wie der Fluss und so frei von Intention. Es ist zwanzig nach elf, und es herrscht eine Stimmung ohne alles. Der Kuli, mit dem ich seit Wochen geschrieben habe, fällt mir jetzt mitten im Nichtgeschehen ins Wasser. Ich folge, vermutlich »fassungslos« dem Blinken des Silberleibs, sehe die ausgestreckte Mine eine letzte ungerade Linie in das trübe Wasser zeichnen. Das geschieht im Rücken des Garibaldi-Denkmals, wie ich mit einem hilfesuchenden Blick zurück, am Schnitt seiner Kopfbedeckung, am wallenden Haar erkenne, während mir gleichzeitig einfällt, dass ja Italo Svevo sein Schreiben als »Unterwassermalerei« bezeichnet hat. Die Wege zur Schrift sind von überall kurz.
Im Filmmuseum von Turin, einer Kathedrale für die bewegten Bilder, gibt es einen unscheinbaren Seitenaltar mit zwei Pin-up-Fotos von Marilyn Monroe, hingestreckt auf roter Seide, überdehnt wie in Ekstase. Darunter steht auf einem Torso das legendäre schwarze Spitzen-Bustier, das sie in Filmen anlegte, im Bewusstsein, den Gaffern den Kopf zu verdrehen. Hier aber, im Halblicht der Vitrine, ist dies ein grau und abgetragen wirkendes Korsett mit Großmutter-Ausstrahlung. Zwischen den Körbchen, die sich ehemals um die nackte Haut gelegt haben, baumelt ein ausgefranstes Schleifchen, mit zwei losen Fädchen am Saum, grau auch dies und trostlos »second hand«. Trotzdem steht die brütende Schwarzhaarige mit der schläfrigen Ava-Gardner-Sinnlichkeit vor dem Ensemble und beißt sich die Nägel ab vor Spannung, kehrt sogar von der Ninotschka-Vitrine nebenan noch einmal zurück und starrt das Textil abermals an, die Reliquie, die auf eine Weise profan ist, wie es nur Devotionalien sein können, und allmählich fühlt man sich ein in die Leibwäsche der Betrachterin.
Dieses Degenerieren am Gleichzeitigen! Morgens freue ich mich an den frischen antiquarischen Farben in Jean d’Ormessons »Wie es Gott gefällt«. Mittags laufe ich mit Coltrane im Ohr am Flussufer entlang. Nachmittags kaufe ich ein englisches Magazin, weil Gillian Anderson darauf abgebildet ist, drücke im Bett die Knie durch und bleibe so. D’Ormesson, Coltrane und Agent Scully lassen mich in Ruhe, am Ende bin ich ja selbst noch da. Ich führe mein Leben nicht. Es führt mich wie ein Blindenhund.
Abends kommt Clara an, lenkt ihre Schritte in die Stadt, bebt, balanciert, muss sich setzen. Dann tut sie langsam, Schritt für Schritt, ihren Gang in die Stadt, spricht über diese, als spreche die Stadt über sich selbst, mit einem Blick, als mustere sie sich im Spiegel und gefiele sich so gut wie Wedekinds Lulu:
»Manchmal möchte ich ein Mann sein – mein Mann.«
Dann sind wir in unser blassblaues Hotelzimmer gegangen und haben uns hinter zugezogenen Vorhängen auf dem Bett geküsst, ohne erhebliches Glück. Das ist da, als
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