Momentum
italienisches Lied mit dem Refrain »mi scappa la pipi, papa«, und die zusammengeklappten, müßigen Sonnenschirme blättern im warmen Wind träge eine Falte um wie die Seite eines Romans.
Er hängt lange über der Menükarte, bestellt sich einen Risotto. Sein Blick geht durch den Speisewagen und verwandelt, was er sieht, in Interesselosigkeit. Die Reisenden können diesen Blick gut aufsuchen, um in ihm voller Behagen gegenstandslos zu werden, nichtig in so viel Phlegma. Weil ihn die Gesichter der Mitreisenden und die Landschaft nicht persönlich beantworten, wendet er sich wieder der Speisekarte zu. Man kennt sich schon.
Der Risotto tritt ein. Es ist ein bleicher Matsch auf einem weißen Teller.
»Den hatte ich mir auch anders vorgestellt«, sagt der Mann zu seiner Begleiterin. Sie hebt ihr Gesicht zu seinem, findet den Reis erst in seiner Mimik, dann blickt sie auch auf den Teller. Sie liest weiter, er isst weiter.
Als er fertig ist, steht sie auf, nimmt überraschend sein Gesicht in beide Hände, küsst ihn, löst sich, forscht in seinem Gesicht, küsst ihn erneut, was er geschehen lässt, sucht seine Züge ab und sagt:
»Dich hatte ich mir auch anders vorgestellt!«
Eines Tages, ich vermute sogar, nach Jahren, hört er auf, Genuss dabei zu empfinden, die duftenden Wangen seiner Frau zu küssen. Er wechselt, küsst jetzt die Stirn, die Haare, er verliert auch daran die Lust. Die gesamte küssbare und nach wie vor duftende Ausdehnung seiner Frau hört auf, ihn zu binden. Er sieht weg, er küsst woandershin, dann gar nicht mehr. Er bestaunt sie wie ein Bauwerk. Sie findet, ihr Verhältnis habe sich verdiesseitigt, vergänglicht. Sie findet, man müsse die Liebe wie ein Theaterstück bauen, als die allmähliche Aufdeckung der Intrige. Sie findet dies, am Herd stehend. In der Hand hält sie ein Kotelett. Sie sagt:
»Kaum zu fassen, wie die Zeit verschwunden ist, die Zeit des Koteletts. Die dabei waren, fehlen. Die heute da sind, sind keine Nahestehenden. Das Kotelett ist es.«
Manche Männer tragen an ihren Kleidern die Spuren der nicht überwundenen Kindheit: der Gemütliche wählt den Blazer mit Hirschhornknöpfen, der Glatzkopf den Kragen mit weiß-blauen Matrosenstreifen, der Halbstarke das Uhrarmband mit Comicfiguren, der Vorgesetzte die Motivkrawatte. Sie tragen dies als ein Indiz für ihre Tugend, »sich nicht so ernst zu nehmen«, und ein bisschen Mentalität von dieser Art klingt auch nach in der Wahl ihrer Frauen, Leibspeisen und Berufe. Und manchmal pusten sie beim Essen auf die Gabel wie die Kinder. Wenn sie Senioren sind, wird man sie anschreien im Altersheim, als hörten sie schlecht, und man wird übertrieben verlangsamt und kindisch mit ihnen sein, so würdelos geht man hier nun mal um mit den Alten der Alten Welt. Es ist, als hätten sie sich früh darauf vorbereitet.
Da sitzt ein Geschäftsmann im Flugzeug und erledigt seine Weihnachtspost. Mit Kinderschrift schreibt er auf rotem Papier, klebt goldene Sterne darauf und macht dazu eine Bübchen-Schnute. Als Unterlage verwendet er das »Handelsblatt«, die humoristische Krawatte fällt immer wieder auf das Papier, die Lippen bleiben trotzig geschürzt wie die des Schuljungen beim Basteln einer Martinslaterne. Für die Dauer der Arbeit ist dies Gesicht schön in der Abwesenheit, ohne Schauder, ohne Traum, ohne Erleuchtung. Auf dem Flughafen wird er in der Menge untergehen. Es gibt immer diejenigen, die das Volk sind, und diejenigen, die sich unter das Volk mischen.
Ein Mann an der Seite seiner Frau, die eine rundliche Kichertaube ist, sagt immer nur und immer wieder:
»Möpschen, sei lieb zu mir!«
Ringsum in Displays verlorene Kommunikationskranke, die die Welt in ein Büro verwandeln. Ein Mann telefoniert im Zug mit Brasilien. Dabei baut er Brasilien in seine Rede so unbeholfen ein, damit wir verstehen: Es ist Brasilien. Die Frau am Fenster hört ihm mit schielenden Ohren zu. Steht auf, kommt wieder. Und wieder. Eine Verdauung jagt die nächste. Der robuste Nervöse blickt abfällig nach den armen Jugendlichen auf dem Bahnsteig. Sie können nur noch die Tabus brechen, die ihnen ihre Eltern übriggelassen haben. Der Telefonierer sagt:
»Die Sache ist die: Wo Einfluss ist, sollte er ausgeübt werden. Wir haben zwei Drittel Leistungsträger.« Er lauscht der knappen Antwort und sagt: »Was da drüben an Leuten rumläuft, kannst du ja nicht gerade als ›second level‹ bezeichnen.«
Und lächelt ein Herrenlächeln.
In
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