Momentum
Kinderwagen begütigend sprechen, dabei ist das Enkelchen längst eingeschlafen … Die Großväter, die die tobenden Jungen ermahnen: »Vorsicht, ich bin nicht mehr in dem Alter.« Wir gehen durch den abgelegten Panzer der vergangenen Stadt und ihrer Versprechen. Der Winterhimmel setzt Pastell zu. Träger von Tüten und Frisuren ziehen vorbei, Gesichter mit Anliegen schneiden durch die Menge. Manche gehen und sind doch immer Fragmente ihrer Clique, andere dagegen kommen solitär, immer vereinzelt, Einsamkeit ausatmend.
Eine junge Frau trägt einen Hut nach dem Vorbild der Bienenkorb-Frisur von Dusty Springfield, sieht aber aus wie ein Salzstreuer. Eine Mutter erklärt ihrem behindert lallenden Sohn, was eine Buchhandlung ist. Er reagiert wie ein Lesetrunkener und möchte durch das Fenster in die Auslage steigen.
Wir durchqueren Bilder. Die Zeitung ist voll von einer Sängerin mit Oberschenkeln, aber ohne Stimme. In dem Bei-sich-Sein der Stadt sind die Kinderwagen, die Radios, die Lichtwechsel auf den Fassaden das Milieu. Im Bauch der Stadt sind noch die Antiquare, die kleinen Schuppen mit Lederwaren, die Delikatessenläden und Brautmodengeschäfte – lauter Verbindungswege in die Vergangenheit, also in das Massiv dessen, was einmal das Werden dieser Stadt war, das sich nie ganz entfaltete und dennoch das Nicht-Überwundene ist.
Ich sitze, nichts kann mich kümmern. Die frühen Abendstunden reihen sich ratlos. Bis hierhin habe ich mich gebracht. Worte kommen kaum. Ich liebe etwas. Als bedürfte es einer Generation Schlaf. Der rauschende Sonntagslärm ist nicht der von kürzlich. Sinnlos sein. Miene machen. Fragen: Von Jetzt nach Wann?
Man sieht sich ein Fresko an, die Farbe im Gewölbe ist ein schmutziges Veronese-Blau, in das der Staub Einlass gefunden hat. Man geht durch die Stadt, man hat diese Stadt immer gesiezt. Man entlässt das Fresko in sein Vergessen, aber das Blau der Decke wölbt sich noch immer im eigenen Himmel.
Die kunsthistorische Bibliothek in der Via Giuseppe Giusti von Florenz ist in einem Stadtpalais untergebracht. Ein Garten mit Palmen und Zitrusfrüchten umfängt die Villa auf ihrer Rückseite. Schaut man aus den Bibliotheksräumen mit ihren Stichen und den dunklen Lederrücken der Folianten hinaus in den Tag, bleibt der Blick in den Bäumen hängen, die so alt sein könnten wie die Renaissance. Hier las ich tagelang am »Traktat über die Malerei« von Leon Battista Alberti. Der war ein Renaissancemensch, wie es keinen zweiten gab, sprang mit geschlossenen Füßen über einen Pferderücken, warf eine Silbermünze so hoch in die Kuppel des Doms von Florenz, dass sie dort oben klingelnd anschlug – so wie dieses Bild in meiner Erinnerung.
Von Alberti las ich auch den Satz: »Nulla si truova insieme nato e perfetto.« (Nichts ist zugleich im Entstehen begriffen und schon vollkommen.) Der italienische Text wird mein Ohrwurm. Ich sage ihn mir vor im Bus auf dem Weg in die Stadt, auf dem Bürgersteig, beim Aufräumen des Zimmers, im Zug, er ist der Refrain zu allen anderen Sätzen und doch eines Tages verdunstet.
Viele Jahre später, bei meinem letzten Umzug, fällt aus einem alten Buch ein blaues Löschpapier, auf dem ich mit einer unfertigen, immer neu variierenden Schreibschrift, stupide, Wort für Wort, wie eine Strafarbeit aus düsteren Schulzeiten die ganze Seite vollgeschrieben habe mit dem Satz: »Nulla si truova insieme nato e perfetto.« Inmitten der Umzugskisten glimmt eine italienische Nachmittagssonne, alles ist geblieben, und ich sehe den Mann wieder mit geschlossenen Füßen über den Pferderücken springen und den Staub auf den Blättern der Palmen im Garten, und die Goldmünze klingelt noch einmal in der Kuppelwölbung des Déjà-vu.
Der alte Mönch Don Gabriello fragt mich, welches mein Lieblingsparfüm von denen aus seiner Fläschchen-Sammlung sei und ob ich an Gott glaube. Dann setzen wir uns an den Tisch, essen fasriges Fleisch, und ich sage »Homme« und »Nein«.
Am nächsten Abend bin ich in die geräumige Küche getreten, wo Wurst und Käse und Wein schon aufgestellt sind, damit die abendlichen Gäste, wenn sie von den Feldern kommen, etwas haben, um ihre Wechselreden darüber auszubreiten. Schwer erhebt sich von seinem geflochtenen Stuhl Don Gabriello, sein Gesicht will heute nicht lustig werden wie sonst.
»Altersflausen«, sagt er, Mönch, der er seit seinem 19 . Geburtstag und heute, jenseits der siebzig, immer noch ist, und der, seit er
Weitere Kostenlose Bücher