Momentum
der Ferne gleitet der Schattenriss einer alten Ansiedlung vorbei. Es sind die Mauern, in denen der Mann, seine Epoche, sein Mobiltelefon vorbereitet wurden. Sie hatten keine Vorstellung von ihm, und er hat keine von ihnen. Der Zug brettert durch ein Niemandsland. Aber auch der Mann mit dem Telefon hat eine Heimat, die er sich unangefochten wünscht.
Die Servicekraft tritt an den Tisch und fragt den Verbraucher: »Was essen Sie?«
»Ich würde mich auf einen Gang fokussieren.«
»Wir servieren nur Menüs ab zwei Gängen.«
»Ach, das hatte ich noch gar nicht konfiguriert.«
Der Mann am Nachbartisch beugt sich herüber und flüstert mir zu:
»Dass wir sprachlich verarmt sind, das sieht man an so ’ne Typen.«
Ein Mädchen mit fetten Händen, fallenden Mundwinkeln, Augen, die das Gegenüber festhalten wie eine Ware, unmittelbar vor dem Kaufentscheid: »Eigentlich wär ich ganz gern schwanger gewesen. Das hätte mir so ein bisschen Problematik gegeben, was ich jetzt mache und so …«
Unterhaltung zweier alter Männer am Nebentisch:
»Und was machen Sie am Wochenende?«
»Ja, was heißt, was machen Sie am Wochenende?«
»Sie müssen doch was machen.«
»Ja, was heißt, Sie müssen doch was machen? Was muss ich denn machen?«
»Also, ich kenne eine Frau, die betrachtet am Wochenende ihr Zinn.«
»Ich hab kein Zinn.«
»Ich meine ja bloß so, symbolisch.«
»Ja, was heißt hier symbolisch? Meine Frau fehlt halt, die erzählte immer so Geschichten.«
Ich sitze im Taxi, die Fahrt ist lang, der ukrainische Fahrer redselig. Ich bitte:
»Würden Sie mich hier wohl einfach eine Weile dämmern lassen? Ich bin so müde.«
Der Mann dreht das Radio ab, sagt »ich schweige« und schweigt. Nach einer halben Stunde erhebt er aus dem Nichts seine Stimme wie eine Orgel:
»Jätzt erzäähle iiich Wiiitz!«
Der Witz beginnt mit »kommt Blondiiine zu Blondiiine«, ist nicht nach meinem Geschmack, doch freut mich die Entscheidung des Mannes für einen Witz, ja, selbst für diesen Witz, für die Beklommenheit vor der Pointe, die aussieht, wie die Scheu vor dem Kuss. Was danach kommt, breitet sich aus als die verallgemeinernde Kraft der Freude, und ich kurbele die Scheibe runter und rufe im Vorbeifahren den Passanten zu:
»Den müssen Sie hören … Jätzt erzäähle iiich Wiiitz.«
Da ist ein Behagen nach dem Händeschütteln, dem Anstoßen der Gläser, während wir uns in die Augen sehen. Wir reden auf der Straße nicht laut mit uns selbst. Wir dämpfen in Kirchen und in der Nähe von Toten unsere Stimmen. Wir blicken in der Trauer zu Boden. Wir achten den Unterschied von »Du« und »Sie«. Wir ignorieren im Gespräch die Gebrechen und Verwachsungen des Gegenübers. Wir verheimlichen unsere primären Geschlechtsmerkmale während der Arbeit. Wir empfinden den Sonnenschein als gutes Wetter. Abends heimgekehrt. Alles richtig gemacht. Dieser Friede.
Du lässt mich allein. Keine Briefe kommen. Deine Anrufe sind selten vielsagend, und sie enden nicht glücklich. Kaum habe ich aufgelegt, bleibt eine nächtliche Landschaft, in der dann und wann ein Hund anschlägt, ein Hund mit Namen »This is a rebel song« oder »Goshen«. So klingt solidarische Musik, die mit der Trommel hinter der Marching Band hergeht und die Liebe als Marsch anlegt.
Darüber schlafe ich ein. Im Traum liebe ich Ursula Andress in einem Einbaum. Zu beiden Seiten schwimmen die Elendsbauten eines südamerikanischen Dschungels vorbei. Zwischen den Hütten hat sich eine johlende Menge von Zuschauern versammelt, die uns anfeuert. Aber mir ist auf Ursula alles Gesicht und Becken und Beine. Zwischendurch führt sie immer wieder geschäftliche Unterredungen am Telefon, macht aber weiter. Deshalb nehme ich trotzig ein Buch heraus und lese demonstrativ. Aus den Buchseiten aber quellen immer mehr Köpfe von Leuten, die rufen: Gut gemacht! Weiter so! Nicht nachlassen! Ich muss das Buch zuklappen und öffne die Augen im selben Augenblick.
Ein Kind kommt ins Zimmer und sagt: »Da sind ja ganze Wälder im Altpapier.«
Wir sitzen an einem Tisch beim Essen, Greta, Patrick, Til und ich. Patrick legt das Foto einer auf dem Rücken liegenden Frau vor, die ich nie nackt sah. Der obere Bildrand setzt unterhalb ihrer Brüste an. Sie muss das Foto selbst gemacht haben. Der Blick ist subjektiv, führt an ihrem Bauch abwärts, hinab bis zum Becken, in dessen Mitte ihre Hand liegt und die Scham verdeckt, hinter der sich die schmalen Oberschenkel
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