Momentum
wir nebeneinander auf dem Rücken liegen, die Decke ansehen und sie, als ich frage, woran sie gerade denke, freundlich erwidert: »An dein Passfoto.«
Die Eritreerinnen am Bahnhof in Rom wirken, gewickelt in weiße Laken, wie Pestheilige, die aus den Ruinen kommen. Manchmal werfen sie sich platt auf die Wiese, schlagen mit ihren Handflächen aufs Gras und glauben offenbar, die Erde berühren zu müssen. Im Schatten unter den Bäumen sammeln sich auch die Transvestiten, die immer freundlichen, die sich umarmen und küssen zur Begrüßung. Was die Haut nicht alles umspannt, verpackt, schützt. Sie zu berühren, gilt als bedenklich. Kaum verweilt die Hand zu lange oder bewegt sich falsch, drückt zu oder lässt nicht los, ist eine Verbindung da, eine Verpflichtung, vielleicht sogar ein Verbot gebrochen.
Doch manchmal stolzieren die Transvestiten hinüber zu den Eritreerinnen, in aller Unschuld, wie im familiären Zusammenhang der Randständigen, die sich verstehen. Ja, und sie berühren sogar diese Unberührbaren. Einmal sehe ich die Fingerspitzen eines Transvestiten mit den lackierten Nägeln abgelegt auf so einem eritreischen Unterarm, aus dessen Braun die Tätowierung tritt wie aus der Wassertiefe schillernd.
Unten am Tiber kann man Liebespaare beobachten. Man kann aber auch ein abgebrochenes Brückenstück hoch über dem eigenen Kopf betrachten mit allen seinen Pilastern und in Marmor gearbeiteten Fabeltieren oder ein paar Heroinspritzen mit der Fußspitze ins Wasser schnippen oder zusehen, wie ein halbverwester Hund mit geblähtem Bauch durch die Kloake schwappt. Ferner liegen die Villen, aus denen lachende Frauenstimmen dringen, ferner liegen Klerus und Kunstgeschichte. Der Glückliche in der gelben Hose treibt ein giggelndes Mädchen am Ufer unter die Büsche und kommt auf der anderen Seite nicht mehr hinaus. Dazu zirpt aus der Kirche gegenüber ein Cembalo-Konzert von Scarlatti. So klingt Heimwehmusik, aus dem spanischen, dem portugiesischen Exil hierher geschickt, voller Sehnsucht nach etwas, das anders ist als dies hier, und doch: Gib mir die Hand, lass uns stehen bleiben und die innere Geschwindigkeit des Flusses annehmen.
Ich folge einem befremdlichen Paar durch den Petersdom: Der Ältere ist ein Deutscher mit Studienrat-Ausstrahlung, vollbärtig, bebrillt und in lädiertem Englisch den Kirchenraum erläuternd. Der Jüngere ist offenbar ein Amerikaner, jung, Kaugummi kauend und desinteressiert. Beide verkörpern auf ihre Weise ein Stereotyp. Der Deutsche hat seinen Kopf dauernd erhoben und redet mit Entschiedenheit in die Höhe des Kirchenschiffs; der Amerikaner hat den Kopf dauernd gesenkt und lässt alles über sich ergehen. In der Rhetorik des Deutschen macht sich eine gewisse Gereiztheit breit, die sich, als er vor den Fußabdruck des heiligen Petrus im Stein gelangt, endgültig Bahn bricht. Da nämlich packt er den entgeisterten Amerikaner an beiden Armen, zwingt ihn vor die Fußspur und keift:
»Das ist kein Amerikaner, das ist ein europäischer Weiser, der hier eine Vision gehabt hat. Fass das an, fass sofort die Vision an!«
Worauf der Amerikaner erschreckt zurückstrebt und weder die Vision anfassen noch den Deutschen ansehen möchte. Überhaupt will er dem Ort wie dem Mann nicht mehr nahe kommen, weicht bis zum Weihwasserbecken zurück und drückt sich nur noch wie ein Schnürsenkelverkäufer am Eingang zum Seitenschiff herum. In diesem Augenblick jedenfalls hat die Vision ihre Wirkung nicht verfehlt, und der erste deutsche Tourist, der danach aus dem Licht der Außenwelt in das Dämmern der Kathedrale tritt, summt auch wirklich: »Ach, du lieber Augustin, alles ist hin.«
Ich kippe zwei der vielen, gegen die Tischkanten gelehnten Stühle um. Auf dem einen kommen Jacke und Plastiktüte zu liegen. Auf den anderen setze ich mich mit Blick auf Straße und Meer, esse eine halbkalte Lasagne, trinke Rotwein aus einem ungespülten Glas. Gleich hinter dem äußersten Rand der Markise beginnt die Straße, auf der die Autos pausenlos fahren. Dann ein schmaler Bürgersteig. Dann ein Wall unbehauener Steine, auf denen manchmal halbnackte Leiber auftauchen, die über die Straße daherkommen, weil man sich doch hier auf unserer Seite kalte Limonade kaufen kann. Dahinter das große Meer fast unbewegt in der Sonne. Bisweilen gleiten am Horizont winzige Boote vorüber, deren müde manövrierende Segel wirken wie auf Messers Schneide balancierende Tänzer. Zu alledem plärrt aus dem Radio ein
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