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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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zwanzig ist, weiß, dass es nicht Gottes Wunsch sein kann, einen pubertierenden Knaben mit Askese zu strafen. So wird die Pubertät nie ganz überwunden. Auf einmal erscheint vor unserem inneren Auge das Leben, das andere, das der Bauernjunge Gabriello ohne Kloster hätte führen können, und während ihm wirklich gerade die alten Augen tränen, zitiert er rasch ein paar Verse von Leopardi, nennt sie »so einfach und doch unsterblich« und schließt bekümmert an:
    »Wie viel schwieriger bin ich doch zu verstehen, ich krauser alter Mann.«
    Wir reden die ganze Nacht. Irgendwann stelle ich mich ans offene Fenster. In die vom Wein betäubten Lungen dringt der Morgen. Den schwach erleuchteten Küchenraum durchströmt die Luft dieses frühen Sommers, in den die Leute schon aufgebrochen sind, auf dem Weg in die Felder, sie wogt geradezu hinein, diese frisch-morgendliche Sommerluft, in der nun der alte Mönch in meinem Rücken über seine Jugend heftig zu weinen begonnen hat.
     
    Allein an einem Tischchen in einem jener kalkweißen, aus hohen Leuchten erhellten Räume. Vor dürftigem Essen sitze ich, über dem noch der Atem einer unappetitlichen Küche schwebt. Anwesend sind: ein rotgesichtiger Padrone, der mit einer am Besenstiel befestigten Metallzwinge eine »wirklich, wirklich gute Flasche Rotwein« vom obersten Regalbrett auf das rot-weiß karierte Tischtuch bugsiert; eine stets lachende Frau, Nudel, Leber, Früchte schlingend; daneben eine Alte, die unter schwarz-struppigen Augenbrauen fürchterliche Blicke in ein noch nicht völlig zerfetztes Stück Hähnchenbrust wirft. Sie trägt eine Brosche, die auch ein verordnetes Kennzeichen sein kann: an einer Sicherheitsnadel ein farbloses Plastikhausrelief, in dessen innerer Öffnung ein Metallglöckchen baumelt, wie ein Kennzeichen von Wahnsinnigen, und hat sie nicht Haar und Kopftuch so komisch mit einer zweiten Sicherheitsnadel zusammengesteckt? Sie angelt sich den Padrone mit langem Arm, so wie er sich die Flasche Rotwein angelte:
    »Du weißt, was das heißt«, sagt sie laut, »ich hab heute den roten Schlüpper an, den roten!«
     
    Diese Szenen, die so leicht ins Vergessen treiben. Die weinseligen Nächte, die mundtoten Morgen danach. Wir saßen vor einer Villa unter Bäumen und sprachen schnell und leise. Plötzlich kam ein Sturm auf. So stark, wie ich seit Jahren keinen erlebt hatte, riss er die Flaschen vom Tisch und knickte ein Bäumchen. Der Himmel flackerte erst, dann wurde er geflutet vom Gewitter.
    Spät gehen wir ins Haus, setzen uns an ein Tischchen im gelben Stehlampenschein. Die Müden legen schon die Köpfe auf die Arme, bis wir nur noch zu dritt die Rede hin und her führen. Zuletzt begleitet mich Mauro ein Stück durch den strömenden Regen, grüßt rasch und läuft unvermittelt auf der nassen Straße zurück. Im Hohlweg, in den von beiden Seiten die Brombeerranken über die Mauern fallen, riecht es nach feuchter Erde, Gras und dampfendem Hühnermist. Ein einziges Glitzern und Funkeln in den Zweigen, alle Kleider pitschnass, und ich gehe und gehe immer weiter, nur um nichts an der perfekten Situation zu verändern.
     
    Sie ist angereist. Für die Dauer der halben Tage, die ich arbeite, treibt sie sich in der Stadt herum, erzählt am Abend in farblosen Sätzen von den Cafés und den Museen, den Parks und den Kirchen. Und dass sie auf mich gewartet hat wie eine Seemannsbraut, sagt sie. Heute aber setzt sie sich mit ihren blonden Beinen auf die schwarze steinerne Brüstung am Arno und gesteht ihre Angst vor dem Hotel, der Fremdheit, den verletzenden Blicken aller, vor dem fortgesetzten Alleinsein, den Räumen, die nein sagen zu ihr – durch all dies geht sie und sieht nichts als die Blicke, die sie treffen und die sie nicht wahrhaben wollen, nicht hier, nicht jetzt. Zuletzt wendet sie mir ihren Kopf zu und fragt:
    »Findest du mich sehr verändert?«
    Ich erschrecke, denn jetzt fällt mir auf, wie wenig eine Veränderung ihrerseits jemals unser Verhältnis hätte ändern können. Und »nein«, nicke ich, und spreche von der Jahreszeit des Werdens, auch im Leben und vom Wachsen.
    »Lass«, sagt sie, blass wie ein Buschwindröschen, »der Frühling wirkt nicht bei mir.«
     
    Dieser alte italienische Bauer thront, als müsse er einen alten italienischen Bauern verkörpern, am Kopfende seines langen, rissigen Refektoriumstisches und hält sich noch immer an die Natur, die Familie, die Zyklen des Lebens. Er ist ein glücklicher Mann, setzt er doch seine

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