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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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welche Weise du anschließend umarmt werden musst.
     
    Ihr Eros verdankt sich der Tatsache, dass sie sich selbst unwiderstehlich findet. Zu dem Mann an der Fensterseite des Abteils, spricht sie von ihrem Körper und seinen Fähigkeiten wie von einer Gabe, einer Segnung. Der Sex mit ihr, so versteht man, ist eine Einladung zur Teilhabe an ihrer Selbstliebe. Hat man es begriffen, wird man nicht müde, ihr zuzusehen, wie sie mit der Hand ihren Arm herabstreicht, wie sie ihre Oberschenkel im Reden mit Zartgefühl züchtigt, Oberschenkel, auf denen die Härchen im Sonnenlicht glitzern wie Goldstaub, ehe sich die Hände um ihre Knie legen, die blank sind wie Boxhandschuhe. Diese Hände fliegen ihren Körper nie ohne Weihe an. Sie kennt Anbetung, denn sie betet sich selbst an. Sie küsst nicht, sie lässt küssen, und anschließend sackt ihr Kopf nach hinten, und ihr Gesicht liegt ertrunken in ihrer Frisur.
    Ich folge der arrogant geschwungenen Linie ihres schlafenden Auges. Nach einer Stunde öffnet sie es zum Schlitz, als der afrikanische Alte in das Zugabteil schlurft mit einem Gesicht, das aussieht, wie aus der Ginsengwurzel geschnitzt. Er nimmt den letzten freien Platz, gleich zu ihrer Linken. Ihre Augen reisen müde an seiner fleckigen Hemdhose abwärts und kommen auf seinen Fußnägeln zum Stehen, die die Oberfläche haben von Paranussschalen. Als ihre Augen sich über diesem Bild schließen, haben sich Welten berührt.
     
    Diese Verkäuferin in ihrem tailliert geschnittenen weißen Fleischverkäuferinnenkittel empfiehlt ihren Parmaschinken wie eine Vertraulichkeit. Ich schwanke. Sie schneidet eine sehr dünne Scheibe ab, das Licht fällt durch die Scheibe, die sie an der Zweizinkengabel in die Beleuchtung hält. Dann lässt sie diese Scheibe in den eigenen Mund flattern, bevor die Zunge den hervorlappenden Zipfel noch von den geschminkten Lippen leckt. Ja, ich soll den Schinken nicht schmecken, ich soll vielmehr zusehen, wie er ihr schmeckt und sich in ihren Genießerzügen ausbreitet. Sie vertraut auf die unweigerliche Wirkung, und da ist sie: Ein rosa Schimmer überflutet ihren Halsausschnitt, der in diesem Augenblick selbst in die Farbe des Parmaschinkens taucht.
     
    Jetzt sehe ich sie wieder, die Gassen von Kabul, die offenen Plätze, das geschundene Mauerwerk: erst in inneren Bildern, da sind sie sepiabraun, mit einem Staubfilm überzogen, wie die Standfotos alter Filme, dann in den Nachrichten, da sind sie aufgewühlt, von Detonationen, von zentripetalen Bewegungen erschüttert, die Gassen der unschönen und doch von allen Winkeln der Welt aus erträumten, verheißungsvollen Stadt.
    Nachrichtenbilder setzen immer nach der Katastrophe ein. Deshalb zeigen sie Menschen, die fliehen, vom Schauplatz wegeilen, in Sicherheit gebracht und geborgen werden müssen. In meiner Phantasie gehe ich auf Schauplätze zu, Orte des Staunens, der Betrachtung.
    Die Menschen, die ich in dieser Stadt kennenlernte, als sie sich Gedanken über ihre Zukunft machten, Alphabetisierungskurse besuchen, ein Geschäft eröffnen, eine Fremdsprache erlernen wollten, sie sind jetzt wieder auf den Straßen, fliehend, geduckt. Einer von ihnen ist mir wiederbegegnet, als er in eine Kamera schrie, dass es ein Verbrechen sei, was man ihnen antue. Ich sah ihn zuletzt, als er gelassen neben mir ins Goethe-Institut schlenderte, in der kargen Bibliothek stand und sagte:
    »Das ist das Schönste, was ich in meinem Leben gesehen habe.«
     
    Einmal gehe ich in Kabul über die Straße und beobachte, wie ein junger Mann und eine junge Frau aus zwei Richtungen, aber offenbar nicht ohne Verbindung, ein Kino ansteuern, sie den Frauen-Eingang, er den für Männer. Ich hätte an der Verbindung der beiden noch gezweifelt, wäre da nicht das Prädikat des Films gewesen: »Romance beyond all dreams.« Kaum sind die beiden in dem ockerfarbenen Kasten verschwunden, sehe ich einen Händler mit einer einzigen Sorte Blumen, und mir fällt wieder ein, dass diese »Bartnelke« heißt. Mirwais steht da und sagt unvermittelt:
    »Besser einen Garten anzulegen, als eine Straße zu reparieren.«
    Ich schaue wohl begriffsstutzig. Deshalb ergänzt er:
    »So hat die Straße ein Ziel.«
    Im Dunkeln des Kinosaals stelle ich mir vor: Zwei am Ziel, im Schatten der Leinwand, beyond all dreams.
     
    Niemand entzieht sich der Ansteckung durch die Kunst der Virtuosen. Sie lösen sich aus der Materie, überwinden die Sprödigkeit des Materials, den Lehmkloß, in einem freien Flug der

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