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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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ihrer Zusammengehörigkeit befinden. Eine Frau ohne rechtes Zuhause in der überreichen Pracht ihres Körpers, sucht sich durch Frivolität und Koketterie der eigenen Leiblichkeit neu zu vergewissern. An ihrer Seite dämmert ein Pykniker, selig entsprungen der Klasse der Menschen, die es aus irgendeinem Grund vermasselt haben und weiterleben in dem Gefühl: Jetzt kommt es eh nicht mehr drauf an. Er niest in seine hohlen Hände, reibt sich mit einem Papiertaschentuch die Innenflächen blitzblank. Die Prachtvolle an seiner Seite sagt gerade, strahlend selbstgewiss:
    »Der Meeensch ist für mich ane Heraasfoaderung.«
     
    Im Hof vor dem Café, in dem ich ein Glas Weißwein trinke, arbeiten zwei schmächtige Bauarbeiter mit der Schaufel. Sie heben eine Grube aus, schmal wie ein Grab. Das Erdreich betten sie auf eine blaue Plastikplane direkt neben dem Kübel mit den Stiefmütterchen. Sie könnten Brüder sein, aber nicht meine. Sie lehnten sogar schon auf die Schaufeln gestützt vor meinem Tisch und erzählten mir was. Vielleicht werde ich heute noch erfahren, dass einer MS hat oder fünf Kinder, dass eines behindert ist und die Frau des anderen trinkt. Wie kompensiert der Küchenchef täglich das Anlegen seiner Gastro-Uniform? Wo setzt man dem Mitgefühl eine Grenze?
    Die beiden sind inzwischen in eine feinkörnigere Erdschicht vorgedrungen und kauern grübelnd vor dem Loch. Wie Schauspieler fahren sie sich mit den behandschuhten Händen über das Kinn, gestikulieren auch mal in die Grube, prüfen den Grund mit dem Spaten. Dahinter lassen sich zwei Mädchen von einem dritten fotografieren, wie sie in den Schalenbrunnen steigen. Die Ältere im schwarzen Fummel und mit blondem Pony schaut herüber, den Rocksaum über dem Wasser schlenkernd. Dass ihre blassen Beine bis zur Sliplinie sichtbar werden, ist dabei kein Nachteil, weiß sie doch, wie definiert diese Beine sind. Und es ist Sommer. Und sie weiß sich beobachtet.
    Doch nichts, aber auch nichts davon bemerken die auf ihre Grube konzentrierten Erdarbeiter. Mein Privileg ist nicht der Wein, der eben zu Ende geht, sondern der Blick. Inzwischen ist der Rock des Mädchens nass, sie winkelt ein Bein ab, schlenkert übermütig, strahlt, wird immer kühner, weil sie einen Blick, irgendeinen Blick verlässlich auf sich fühlt. Der Wind hebt die Ränder der blauen Plane an. Den Mädchen fallen immer neue Positionen ein, sie arbeiten sich durch einen ganzen Pin-up-Kalender, und erst als sie beginnen, das Wasser mit geschlossenen Händen zu schöpfen und sich zuzuwerfen, als sich die Fotografin in Sicherheit bringt und ihre Gesichter vom Wasser glänzen, ist das Spiel endlich für niemanden mehr als für sie selbst.
    Und, ja, denke ich, während sich die Arbeiter tiefer und tiefer in ihr Grab vorarbeiten, auch schwerfällige Melancholiker, die in Löchern wohnen und in der Zeitung die Wetterkarte, die Kontaktanzeigen und die Comics lesen, genau so stellen sie sich wahrscheinlich Frauen vor, hoch oben auf der Gangway, von wo sie denen da unten in ihrem Loch ganz persönlich und mit flügelschlagenden Fingern zuwinken. Na und? Sind sie deshalb Verlorene, Romanzen-Reiter? Die beiden jungen Frauen steigen gerade tropfnass aus dem Brunnen, und die beiden Arbeiter sind in das offene Bild nicht eingetreten, sie haben seine Oberfläche nicht mal durch einen Blick gekräuselt. Sie mästen ihre Phantasie an anderen Bildern. Wir Übrigen aber hatten eben ein glückliches, deshalb kurzes Leben.
     
    Wenn er auf die Bühne geht, hat Daniel diesen Gang, der kein Schreiten sein will und doch weiß, dass es »Auftritt« heißt, was hier geschieht. Er steht im Halbrund der äußersten Bühnenmitte. Das Licht ist bei ihm, zweitausend Menschen sind es. Er hebt die Geige, sticht in See: »Kaddish« von Ravel, komplex, fasslich, virtuos und immer wieder pianissimo, vor allem aber in jedem Moment solo, vereinzelt und sich im Lauf der Bewegung immer stärker vereinzelnd. Ich sitze in der Kulisse, aus allem herausgetrieben in die Musik hinein, in den Strich des Bogens, der jetzt wie ein Luftzug über die Saiten kommt, wie der Hauch vor dem Regen. Der Feuerwehrmann neben mir aber kratzt sich das Bein, mit breitschaufeligen Nägeln über die Uniformhose, gegen den Rhythmus, hinein in den Hauch, und macht ihn so erst vollkommen.
     
    Der Garderobier lehnt, das ist der letzte Rest seiner Selbstbewahrung, undiszipliniert an der Wand. Die Erniedrigung fühlt er: Der Stoff seiner Livree ist der gleiche, mit

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