Momentum
Ideen, lösen sich aber auch vor der Ausstellung handwerklicher Fertigkeit, erworben in Jahren Lebenszeit, einsamen Stunden des Übens ohne Gratifikation. Das hören wir mit.
Ich folge den Tabla-Spielern im Viertel Karabat bei der Ausbreitung ihres unendlichen Inschallah. Darunter ein Cherubim, ein Zigeunerbaron, ein Iggy Pop. Immer wieder huscht ein Lächeln über die Züge des Solisten, wenn etwas, hörbar nur für ihn, sich gefügt hat, wenn der Augenblick blüht, wenn der unerhörte Moment da ist, eingetreten, nicht produzierbar, eher wie ein Atemzug, der durch die Luftschwingungen im Raum geht und gleich wieder weg ist, von der Musik mit abschiedhafter Verve gegrüßt.
Als ich durch Kundus spaziere, über den alten Markt und dann hinaus über die große Staubstraße, ist der Junge Kamal an meiner Seite. Er zupft mich manchmal auf die Straße zurück, wenn ich auf Abwege will, sagt aber nicht viel. Dennoch, ginge ich falsch, er würde mich davor bewahren. Nach einer halben Stunde richtet er erstmals einen ganzen Satz an mich und fragt:
»Gefällt es dir mit mir in dieser Stadt, gefällt es dir?«
»Ja«, sage ich, »es gefällt mir gut mit dir«, und lege die Betonung auf beides, auf das Gefallen und auf das »mit dir«. Als wir eine weitere halbe Stunde gegangen sind, will er wissen:
»Gefällt es dir wirklich mit mir in dieser Stadt, sag, ist es schön mit mir?«
»Ja«, sage ich, »Kamal, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, als jetzt mit dir in dieser Stadt zu sein. So gut gefällt es mir.«
Er geht durch den Staub mit der Würde eines Kindes, das er eigentlich nicht mehr ist. Als wir uns Stunden später trennen, will er sicherheitshalber noch einmal wissen, dass es schön, wunderschön mit ihm war in dieser Stadt.
»Warte«, sagt er und verschwindet in einem Gemischtwarenladen. Dort kauft er mir eine Ansichtskarte. Sie zeigt einen Falken, vor grauem Hintergrund, bloß einen Falken.
Nach Wochen in Afghanistan kommen wir für eine Nacht in Dubai zum Stillstand. Das Taxi fährt gemächlich eine Allee hinunter, gesäumt von Palmen, auf die schimmernden Drusen der Hochbauten zu. Palmen. Ich hatte vergessen, dass sie stehen können wie in Miami, wie in »Hawaii Fünf-Null«. Palmen. Für mich wuchsen sie wochenlang nur in der Armut, staubig und elend wie diese, und sind hier was? Zierpflanzen? Vielleicht reise ich nicht mehr so leicht, weil ich mir immer die Frage beantworten muss, bei wem ich ankomme, zu wem ich zurückkehre.
Abends wird Alan Skidmore in einem kleinen Club spielen, flankiert von drei Youngstern, sie spielen John Coltranes »Say it (Over and over again)«. Im Widerschein der roten Tischlampen lachen lauter junge Gesichter. Als das Solo einsetzt, erscheint der Charakter des Solisten.
»Was suchen Sie?«, ruft ein Aficionado hinein. Skidmore antwortet spielend, das Gesicht des Fragenden mit einem Schwung seines Horns wegwischend.
In der Nacht, beleuchtet vom Gelb der Bogenlampen an den Schnellstraßen, sind die Palmen Afghanistans gerade unvorstellbar geworden.
Manchmal ist Nadias Heimweh so, dass sie ihren Vetter in Kundus anruft und sagt:
»Nimm dein Telefon und geh auf den Markt, lass mich die Geräusche des Basars hören.« Und der Vetter, ein schlaksiger Alter mit Raucherzähnen, nimmt sie mit.
»Wo bist du jetzt?« – »Und jetzt?« – »Geh zu den Gewürzhändlern!«
Während es geschieht, lese ich in ihrem Gesicht das Glück, die Entbehrung, die Vergangenheit, die Sorge. Wie sich Menschen und Orte allein dadurch ändern, dass sie fehlen!
Der Teint der Wahlverliererin hat sich der Niederlage angepasst. Der Schweiß des Siegers tropft auf die ausgestreckte Hand des Reporters mit dem Mikrophon. Die Verliererin tritt zurück mit den Worten: »Ich mache jetzt erst einmal intensiver nichts.«
Eine junge Frau sein, das heißt x-beinig sitzen. Ich weiß noch, dass die kleine Blonde, die Rat suchte, den unsicheren Blick auf den Tisch gesenkt hielt, während ihre Stimme intonierte wie die einer Erwachsenen. Ich weiß noch, dass dieses Mädchen den Ausschnitt einer Frau hatte, und damit meine ich bloß den Teint des Halsausschnitts, der wie bei einer Reifen war, die Kinder an ihre Brüste legte, um sie dort schlafen zu lassen oder Jüngelchen oder besinnungslos werdende Männer. Als ich es bemerkte, entfaltete sie ihre Beine, als habe sie es auch gemerkt, und legte sie parallel.
Glücklich wirken Paare oft, wenn sie sich noch auf der Suche nach
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