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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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dem die Sitzmöbel im Speisesaal bezogen sind. Sein Kollege fühlt gerade nichts und sagt, als sei es ein einziges Wort:
    »Die is mir lieber als all diese operierte Mumie vom Golfclub, gut, sie ist runzlig, is’ a Problemtyp, aber sie ist der Typ leb’s aus oder leb’s nicht aus, dies ganze Tralala, weißt schon rucki zucki, oder nicht, aber hoppi galoppi und Mann in Sicht!«
     
    Eine Frau, der die Zähne so stark aus dem Kiefer streben, dass die Oberlippe kaum darüber will, betrachtet das Tote auf ihrem Teller, dann sagt sie schnell:
    »I don’t like it.«
    Unter ihrem Blick stirbt der Fisch ein zweites Mal. Seine knusprigen Augen verraten: Die Antipathie wird erwidert.
     
    Eine Bewegung des Lebens, diese leere Geste des Abschiedwinkens, auf das keine Antwort folgt. Ins Leere gebettet sind diese Gesten, die nicht gesehen, nur vollzogen sein wollen. Sie lösen sich aus den sprachlosen Zonen, aus einem Weinen um verlorene Bilder, die einmal »wir« waren. Wir winken aus dem Traum, winken in eine diffuse Sehnsucht, winken, statt geliebt zu sein.
     
    Der Taxifahrer ist abends manchmal sehr zerstreut. Je tiefer die Nacht wird, desto mehr denkt er an zu Hause, Afghanistan, die Steppe, die Menschen, die dort gerade erwachen. Es kommt auch vor, dass Fahrgäste, gerade nach Einbruch der Dunkelheit, ihren Kopf in den Wagen strecken, sein vollbärtiges, düsteres Gesicht sehen und lieber einen anderen Wagen nehmen.
    »Nein!«
    »Doch, doch. Ich kann es ihnen nicht verübeln.«
    Einmal fährt er lange nach Mitternacht gedankenverloren heim, stellt den Wagen in der Tiefgarage ab, und erst als er sich umblickt, findet er auf der Rückbank, steif vor Schrecken, einen Fahrgast, den er dort vergessen hat. Der schüchterne Nachtschwärmer hatte geglaubt, er werde von einem Muslim entführt und traute sich nicht, sich zu mucksen.
     
    Vom Bürgersteig vor dem Hotel in Seoul wurde mir heute ein Taxi gerufen, in dem ein verdächtig munterer Alter saß, der sich meines Besuches verräterisch lautstark freute. Kaum sitze ich auf der Rückbank, brüllt er mich an:
    »I teacher, you learn.«
    Geistesabwesend denke ich noch, soll er machen, was er will, da brüllt er schon los:
    »You say: Bring me there. Korea say: Ka tschu seo! You say: Ka tschu seo!«
    Ich murmele den Silbenschmand einmal vor mich hin, da schlägt er mit der flachen Hand auf das Polster neben sich:
    »Come, ten times: Ka tschu seo!«
    Ich murmele es, um meine Ruhe zu kriegen. Er schlägt das Kissen wieder und zählt mit der Hand ab:
    »Ka tschu seo! Louder!«
    Ich steigere mich, schreie zehnmal: »Ka tschu seo.«
    Seine Finger zählen es runter.
    »Now: Give me a little discount: Korea say: Kaka tschu seo. You: Kaka tschu seo!«
    Ich schreie es vor mich hin, er skandiert es wie einen Rap. Wir fahren in seinem Wagen durch Seoul und schreien uns an, er zählt mit den Fingern, schlägt auf den Sitz.
    »Now: thank you. Korea say: Kam sa ham ni da! You: ten times: Kam sa ham ni da!«
    Ich schreibe mir die Silben heimlich auf und lese sie ab, schreiend.
    »Good. Good student. Many students I have, you best. Now: Nice to meet you: Pang kap semni da! You: ten times.«
    Er kennt kein Mitleid, die Schreierei geht weiter.
    »Good. Last lesson: Give me little discount, thank you.«
    Auf meinem geheimen Zettel wimmelt es von Silben, aber ich kriege sie so schnell nicht mehr auf die Reihe, weil ich ihre Bedeutung längst vergessen, nur noch die Melodie im Kopf habe. Also schreie ich eine Folge von Silben unsortiert, aber gutwillig in den Wagen. Der Fahrer ist tiefenttäuscht.
    »No! We start new.«
    So geht es weiter, bis ich schweißgebadet aussteige. Ich werde vor dem Hotel kein Taxi mehr besteigen, hat er doch gesagt, er sei immer da und habe die nächste Lektion schon vorbereitet.
    Im Historischen Museum suche ich gleich die Abteilung mit den kleinen Gaya-Tonfiguren, Grabbeigaben aus der Frühzeit Koreas, die als realistische Repräsentationen aller Lebensbereiche verstanden und auch so ausgestellt werden: eine Vitrine für Arbeit, eine für Tod, eine für Liebe. Nur in der Vitrine für »Pleasure« ist das Licht ausgefallen.
    Auf der Rolltreppe kritzele ich in ein Notizbuch, die Treppe ruckt, die Schrift bricht nach oben aus, ich falle fast vornüber, schreibe aber weiter. Die Treppe kommt nicht an. Sie ist, während ich schrieb, abgestellt worden, sie steht also, und hinter mir warten fünf Koreaner schweigend, dass ich den Weg freimache. Das tue ich endlich, drehe mich

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