Momentum
Putensteak mit Rahmchampignons, das tut er immer. Aber sie sagt übergangslos: »Da kriegt der Mann mit der Schweinelende ja bestimmt eine Erektion.« Das ist völlig unverständlich oder hat einen Vorlauf, aber der Schaffner trägt Birkenstocksandalen, einen Oberlippenbart mit Nikotinfärbung und kann sich in der Implosion seines Amüsements kaum mehr einkriegen. Indigniert verschwindet der Kopf der Führungskraft auf dem Nebensitz in einer Publikation über »Psychogenetische Ahnenkunde und Erlebnisprogrammierung«. Dieser Wirtschaftslenker würde gerne für seinen Nettoumsatz bewundert werden, wird aber für das Design seines Oberhemdes gerade allgemein verachtet.
In der Bahn senkt die Dame, mit der ich das Abteil auf der Strecke nach Berlin teile, ihr Journal und sagt – es klingt wie eine komplizierte Eröffnung im Schach: – »Die Cortes-See ist der nördlichste Brutplatz des Blaufußtölpels.« Mit ihr lässt sich reden.
Zehn Minuten später sind wir bei der Liebe, weil sie Abschied von ihr nehmen will. Der geliebte Mensch, sagt sie, sei ja doch bloß einer, der immer fehle, der immer zu wenig sei. Wozu die Berührung, wenn nicht, um nachzufühlen, ob der Geliebte noch da ist? Wozu der Kuss, wenn nicht, um sich noch mehr zu verdichten? Dieses dauernde ich-bin-da, ich-bin-noch-da, diese Beanspruchung von immer mehr Gegenwart! Ebenso ist es im Eros der Rede, sage ich, diese sich übertreffende Kühnheit, ja, diese ganze Rappelköpfigkeit in der infinitesimalen Annäherung, bis man reinen Quatsch sagt, nur um die Nähe noch zu steigern: Und dann lege ich meine Hände in die deinen, und alles regnet ab, kommt nieder wie Staub und ist gut, wie zu Kinderzeiten alles, alles gut war, wenn auf die Wunde geblasen wurde und die Welt wiederkehren konnte.
Als wir die Reiseflughöhe unserer rhetorischen Emphase erreicht haben, öffnet sich die Abteiltür abrupt:
»Ja, sag einmal«, grätscht der Galan herein, tritt auf sie zu, die sich mühsam erhebt, und drängt ihr frontal seinen Körper auf. Die Wiedersehensfreude in ihrem Gesicht zerbricht wie ein Stück Keramik.
»Ja, sag einmal«, sagt er wieder und sucht zur Begrüßung mit der Hand schon ihre rechte Pobacke: »Ja, halli-hallo bei dem schönen Wedder, gell.«
Die Frau, die mich fesselt, als ich sie so schwarz-lila an der Seite ihres Sponsors in den Speisesaal treten sehe, wirkt wie ein Freudenmädchen. Wir lächeln, aber der Mann, der Pelz-Verschenker, sitzt zwischen uns, und ihr Pelz hängt am Kleiderhaken wie ihr eigener Leib zwischen den Regenjacken. Dieser Mann kommt über die Mahlzeit wie ein Abbruchunternehmer. Sie versucht ein langes Lächeln, ein sprechendes, aber vor Weinseligkeit lächelt nur die eine Seite ihres Mundes. Ihre Hände mit den hervortretenden Adern sind verschwenderisch goldberingt, ihre Nägel dagegen silbern lackiert. Zwischendurch scheint mir, als singe sie. Manchmal deckt sein Kopf ihr Gesicht so weitgehend ab, dass mir nur ein dunkles Auge bleibt, in das lächele ich. Sie forciert die Unterhaltung nicht um der Unterhaltung willen. Sie will das Bild der animierten Gesellschafterin erzeugen. Ihr Lachen stößt sich ab, einmal, zweimal, in ihrer Stimme ist etwas, als spreche sie vom Geld. Als sie geht, legt sie im Vorbeigehen ihre beringte Hand auf meine Schulter. Ich blicke auf. Ihre Augen sind nicht kühn, bloß betrunken, und meine Schulter braucht sie bloß, um nicht zu stürzen.
Die Gartentür steht offen, und noch zwischen den Büchern riecht man das frischgeschnittene Gras. Die Episode liegt in einer Zeit des Streunens. Darin entfernen sich auch die Vertrauten, und in der Halbdistanz, in der man ihre Silhouetten sieht, beunruhigen sie nicht. Aber es gibt die, die als Logierbesuch kommen und sich ausziehen und Freizeitkleidung anlegen, in der sie weiße Arme und Beine haben. Es gibt die geschiedenen, die alleinstehenden Mütter, die Ausgeblichenen, die wiederkehrenden frühesten Begegnungen.
Das Mögliche breitet sich aus, das Wirkliche liegt wie ein Urnenfriedhof da. Ich kontaminiere das Leben anderer mit der Aussicht, es könne anders, könne vielsagender sein. Man könnte das innere Leben radikalisieren, etwas anzetteln. Ich kann in ihren Gesichtern lesen, dass sie den Weg nicht zu Ende gehen werden. Ist die Zeit abgelaufen oder die Kraft erschöpft, werden sie sich auf den Rückweg in die Niederlage machen.
»Wenn dir die innere Bestimmtheit abhanden gekommen ist: lass dich verhaften«, sage ich.
Aber
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