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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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zuvor aber glücklich um und schreie:
    »Ka tschu seo.«
    Doch das heißt nicht »nice to meet you«, sondern »bring me there«, und die auf der Rolltreppe schütteln ernst, aber ratlos den Kopf.
     
    Alle haben ihre Ferne, eine Ferne, die dich vor sich her treibt, durch eine Flucht von Räumen. Weiter, weiter, durch eine Passage, die sich in einen Raum öffnet und dich entlässt. Dieser vollkommene Ort gibt sich mit keinem Horizont zufrieden. Zum Beispiel Chabarowsk, in Südostsibirien. Rot geht die Sonne unter, taucht in den Milchschaum des Winternebels.
    »Sieht das schön aus!«, sage ich zum Taxifahrer.
    »Ja«, erwidert er, »ich danke Ihnen.«
    Er behandelt die sinkende Sonne wie ein Accessoire aus der Innenausstattung seiner Heimat, und er hat recht. Anderswo wäre sie anders untergegangen.
     
    Städte werden gebaut auch aus Einsamkeit und Sehnsucht, die Architektur, die Verkehrsführung, die glatten, undurchlässigen Fassaden, sie sind Ausdruck der Vereinzelung. Dann der Park, die Kirche, die Promenade am Fluss, die Innenstadt mit historischen Anwandlungen, der Jahrmarkt – lauter Manifestationen des Verlangens. Das Verlangen wird Teil der Stadt, es gibt die Städte nicht ohne, und es gibt Städter, die, ganz aus Einsamkeit und Verlangen bestehend, die Straßen durchstreifen.
    In einem Park am Stadtrand dieser sibirischen Kleinstadt steht – gleich vor der Anlage, in der drei Rentiere Fotodienst tun – eine hohe Wand aus Pappmaché, in ihrer Mitte eine üppig mit Girlanden dekorierte Aussparung in Herzform. Davor posiert eine hochgewachsene Braut mit ihrem kleinen Bräutigam, seine Schuhe abgewetzt, der Anzug grau und erbärmlich. Sie lässt den Gatten auch rasch links liegen, unterhält sich aber gerne auf Englisch mit mir.
    Nach einiger Zeit frage ich unverblümt, warum sie ausgerechnet am Tag ihrer Hochzeit die Geduld aufbringe, so lange mit mir zu reden.
    »Aber nein«, ihr Gesicht unterstreicht das Entsetzen des Tonfalls. »Dies ist doch nicht meine Hochzeit!« Sie sei hier nur, um die Leute zu animieren, sich fotografieren zu lassen. »Wenn sie nämlich allein kommen, haben sie keine Freude am Bild. Gibt man ihnen aber eine Braut an die Seite, ist das etwas ganz anderes.«
    Es sind Plastikschwäne auf dem Wasser. Nur die Gesichter der echten Bräute, wenn sie die falschen mustern, sind unverfälscht feindselig. Ich folge dem kleinen Bräutigam-Darsteller durch die Stadt. Er hat die Ausstrahlung eines Menschen, dem nichts passiert, dem eigentlich noch nie etwas passiert ist. Er ist unsichtbar, niemand fragt ihn nach der Uhrzeit, niemand nach dem Weg, vielleicht aus Angst vor der Berührung mit dem Nichts. Er selbst hat den Mitwirkenden seines Lebens wahrscheinlich selten ins Gesicht gesehen. Einmal sagte der Mann, an den er mich erinnert, zu mir:
    »Warum soll ich mich umbringen, solange ich noch Geld habe?«
    So einer ist er. Er geht dahin durch die fremde Stadt wie ein Mondsüchtiger.
     
    Im fernen Osten Russlands, am Zusammenfluss von Amur und Ussuri, dreißig Kilometer vor der chinesischen Grenze, treffen sich drei Alte in einer Pagode am Ende eines städtischen Parks mit Blick über das grüne Tal. Der eine trägt Sandalen und eine blumenbestickte Umhängetasche, der Zweite bloß einen grauen Kittel zur Schiebermütze, der Dritte hat den Tod im Gesicht. Seine Augenhöhlen sind so dramatisch schwarz wie im Stummfilm. Mit verächtlicher Miene wirft er immer wieder die Hände in die Luft, als wolle er sie in den Himmel entlassen. Das Wort »Perestroika« ist es, das er wieder und wieder so lautstark straft. Das Verächtliche weicht nicht aus seinen Zügen, nicht einmal, als die aufgetakelte Alte in Violett erscheint, mit einem Plastikhandschuh und einer Strassbrosche im Dekolleté. Sie nimmt die anderen beiden Männer mit, als seien sie entweder ihre Freier oder als sei ihr Freigang beendet. Der mit den schwarzen Augenhöhlen bleibt zurück, redet weiter, schimpft in der Pagode auf und ab gehend auf Gorbatschow, auf den »Sekretär«. Er lacht auch höhnisch wie vor Publikum, bricht nur ab, um sich eine Zigarette anzuzünden, redet weiter, setzt die Zigarette gestisch pointiert ein, kommt auf mich zu, blickt mich nicht an. Ich denke, er will mich schlagen. Sollte es so sein, wird er seine Gründe haben. Er packt aber bloß mein Handgelenk, dreht meinen Arm, um das Zifferblatt meiner Uhr besser vor seine Augen bringen zu können, schleudert den Arm zurück, als sei er sinnlos wie die

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