Momentum
Perestroika, und trollt sich. Ich möchte nicht, dass er stirbt.
Gerade als sich die Wolkenbank kurz vor die Sonne schiebt, erlebt die Frau auf diesem sibirischen Rummelplatz ihren Sturz aus zwanzig Meter Höhe, während sich unten die Starkbiertypen mit den Bodybuilderkörpern vor dem Bikinimädchen am Hau-den-Lukas blamieren. Als sie es zum dritten Mal versucht haben, erhalten sie winzige Plüschbären, die sie ihren Freundinnen überreichen. Die Männer geben Erklärungen ab, die Maschine spottet, die Frauen lachen ein ungutes Lachen und wenden die Bären in den Händen wie Plüsch gewordene Manneskraft.
Die Frau auf dem Freefall-Tower, der Hauptattraktion des Jahrmarkts, wirkt dagegen in ihrem stummen Schrei, als habe sie eben ganz allein die himmlische Liebe gesehen.
Der Glasbläser aus Murano hatte das dicke rote Gesicht gehabt, das einem von den Etiketten der klostereigenen Liköre zuprostet. Er hatte gesagt: Man darf mit dem Glas nicht kämpfen, man muss mit ihm tanzen. Nun sitze ich auf einem Spielplatz in Chabarowsk vor einer weiten Rasenfläche unter Bäumen, darunter drei leere, grün abgeblätterte Gartenbänke im halben Zirkel, drei beschädigte Baumstammstücke, wie Abfall weggeworfen, aber elf bunte Schaukeln baumeln an den bunten Stangen. Weit hinten gehen drei Schaukelbretter im Wind immer noch auf und ab. Die Bewegung der Kinder, die in die Häuser liefen, ist an dem leeren Ort zurückgeblieben und lässt ihn leben.
Erfinden wir uns eine Dame mit einem Sonnenschirm. Sie sei soeben an meiner Parkbank vorübergegangen – warum? Um uns zu beschäftigen. Wir brauchen ja nur eine solche Gestalt, die Spannung ihrer Schritte, die Drehung des Schirms im Gehen, um ruhig tatenlos sein zu können. Sonst: Ja, es ist noch winterlich, die Enten kreischen, der Mantel muss bis obenhin zugeknöpft werden. Wo bist du hingekommen? In den Park, um allein zu sein.
Gerade wird es noch kühler. Die Dame gegenüber hat ihren Platz verlassen im Augenblick, da ich zu schreiben anfing. Als hätte ich sie fotografiert. Dabei schreibe ich nur, um nicht denken zu müssen. Warum in diesem Park? Weil ich ihn mit einem Bus erreichen konnte. Vergiss für einmal, dass ein Paar auf der Bank neben mir Platz nimmt. Sie sitzen begossen. Sie lieben nicht, sie frieren früh.
Wenn der Puls nicht regelmäßig schlüge, hätten wir eine andere Musik. Wenn ich den Schlaf lieben könnte, hätte ich die Hoffnung, einmal satt zu werden. Wenn sich das Träumen genießen ließe, gäbe es süchtige Träumer. Vielleicht ist der Erfolg eine Krise, in der die unbeschädigte Person ihren Prüfungen übergeben wird. Mit solchen Gedanken kommt man über den Winter.
Der Mann nebenan ist ein pessimistischer Schmuser und schwelgt in der Lethargie nach der Verführung. Seine Schwermut, das ist ein Ausruhen auf Enttäuschungen. Die Geliebte dagegen erleidet gerade glücklich den Moment, in dem das Gesicht nicht länger nur hübsch ist, sondern ausdrucksvoll.
Da bleibt sie, die schwebende, hinter dem Rücken des Mannes noch zögernde Hand der Frau, die ihn gleich fassen will, aber noch in der Geste bleibt, beim Verweilen in der Luft, das wie pantomimische Unschlüssigkeit ist, bevor sich der Arm um den Liebsten legt. Dieser ist einer, der sich in seinen Anzug verlaufen hat, einen mit grünmetalligen Pailletten schillernden Ballroom-Smoking.
Seine Augen waren lange in der Fremde gewesen. Damals wusste ich nicht, dass diese Fremde »Psychopharmaka« hieß, »Antidepressiva«. Das Leben ist falsch, weil es ihn in diesen Anzug geführt hat, dachte ich.
Der Mann aber und seine Frau, sie reden von zwei Seiten ins Leben. Ihre Perspektive heißt: »Dass mir das passieren musste!«, seine: »Dass ich das erleben durfte!«
Sie trägt Nuttenschmuck, also keinen Ehering, aber ineinandergeflochtene Silberstränge, irgendein Freundschafts- oder Anhänglichkeits-Insignium jedenfalls, eine ärmellose Tüpfelbluse, Jeans, meeresblau lackierte Fingernägel, spröde Haare, routiniert hochtoupiert und aufgeschäumt, trocken und splissig, aus Erfahrung sexy. Sie trägt einen BH , den man sehen soll, und schaut absichtlich abgebrüht. Die jahrelange Verachtung für den Freier lässt sie am unbeseeltesten erscheinen, wenn sie kess gucken will, kess ist ihre Routine. Ein Unterschenkel ist von Narben zerteilt wie ein Schweinerollbraten, diese frischen Narben verlaufen wie dunkelrote Bindfäden.
Der Schaffner tritt ins Abteil, empfiehlt heute
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