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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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einen Reflex hinterher, und die Musik jauchzt über der geglückten Animation.
     
    Auf einem großen Platz in Santiago de Chile öffnet sich in der grauen Fassade eines Repräsentationsbaus ein düsterer Flur, zu Unrecht »Galería« genannt. Eine Leibesöffnung ins Innere der Paläste ist er, unter die Haut von Bauten, die viel gesehen haben, aber keine Paläste mehr sind. Ein paar lichtlose Läden liegen hier, vergitterte Stuben der Philatelisten und Münzhändler, der Ticketschalter einer Theateragentur, ein staubiges Brautmodengeschäft, eine Fahrschule. Fährt man aber in der klapprigen Kabine des Aufzugs zwei Stockwerke tief in das Innenleben des Gebäudes, kommt man vor die blutrot gepolsterte, genagelte Tür eines Pornokinos. Man tritt ein. So lichtarm die Projektion, so gelb das Bild da tief unten schimmert, kann man nicht erkennen, ob der Saal gefüllt ist oder leer. Auch muckst sich nichts. Auch hält alles still wie im Gottesdienst. Aber sie sind alle, alle da. Die mit den Kunstlederwesten, den Berufsbekleidungshosen, den Holzfällerhemden, den Spiegelbrillen, den Rottweilergesichtern und dem schweren Atem – nicht der Selbstbefriedigung, sondern der Fettleibigkeit.
    Der Pornofilm selbst ist ein Fresko, eine Tapisserie nach alten Vorbildern: Aus einer Perspektive von weit weg richtet die Kamera ihren göttlichen Blick auf ein Matratzenlager voller Nackter. »Orgie« heißt das in der Wirklichkeit, »Porno« heißt es in der Welt der Bilder. Dies hier aber ist ein Drittes.
    Die Kamera bleibt regungslos, gebannt oder desinteressiert in ihrem Blick aus der Halbdistanz. Sie zoomt und sie schwenkt nicht. Es ist unter ihrem Blick auch nur vage zu erkennen, welches Geschlecht dieser nackte Mensch dort hat, was Gesicht, was Schoß ist, wo ein Körper endet, wo der nächste beginnt, und welche Bizarrerie man dort vielleicht unter Nackten oder in blickdichten Strümpfen treibt. Diese Perspektive ist zu unpersönlich für die Begierde, zu zudringlich für die Analyse. Ein Madenhaufen sieht so aus oder ein Kunstwerk.
    Nein, so ist die sexuelle Aktivität nie dargestellt worden, und ein derartiges Publikum hat die Kunst des Erotischen nie gefunden. Dass in diesem amphitheatralischen Keller gerade die erstaunlichste Ausstellung intimer Lieblosigkeit stattfindet, wird mir aber trotzdem erst bewusst, als der Mann neben mir ein Bonbon auswickelt, denn jetzt ist es im Knistern des Papiers so still wie im Schrecken nach dem Sündenfall.
     
    Im Flugzeug von Santiago de Chile nach Balmaceda erzählt ein junger Mann von seiner Freundin, der schönen und dezenten, die immer Angst habe, zu viele Fragen zu stellen, speziell solche, die eine gefährliche Antwort nach sich ziehen könnten. Er redet mit Wärme und Diskretion von ihr, der drei Jahre Älteren mit der »großen Persönlichkeit«. Innerlich ist sie immer beschäftigt, sagt er, hat immer einen guten Gedanken, kann jeder Sache etwas Gutes abgewinnen.
    »Ach …«
    Er bewundert sie wie ein Mensch ohne Phantasie ein Märchen bewundert. Sie brauche ein unglaubliches Quantum Liebe, sagt er auch, denn ihre Meinung von sich selbst sei nicht die beste, dabei könne er sagen: Eine bessere Frau sei ihm nie begegnet.
    »Als ich krank wurde, hat sie sich drei Tage freigenommen, um bei mir zu sein. Sie sieht sich im Fernsehen Formel- 1 -Rennen mit mir an, für mich. Sie hat ein so gutes Herz. Sie kann an keinem Bettler vorbeigehen. Sie malt so schön.«
    Je länger er redet, desto klarer wird: Er fliegt nach Balmaceda, um sich von ihr zu trennen. Er hat eine Schlechtere gefunden. Nun probiert er an mir seinen Abschied aus, redet weiter, trennt sich mit jedem Satz.
    In meinen Händen halte ich währenddessen einen blauen Umschlag ohne Absender, abgestempelt in Finnland. Darin lag nichts als ein unbeschriebenes, schneeweißes Blatt. Als der junge Mann das Thema wechseln will und fragt: »Ein Liebesbrief?«, höre ich mich sagen:
    »Von meiner Verflossenen.«
    Und er blickt auf das leere Papier, als habe er seine Wahrheit darauf gefunden.
     
    Am Straßenrand, ausgesetzt im tiefsten Patagonien, steht dieser ratlose Städter, der aus Buenos Aires hereingeflogen kam und nun die eigene Erschöpfung bereist. Diese Reise hat er lange, und er hat sie mit seiner Liebsten geplant. Doch kurz vor der Abreise gab sie ihm den Laufpass. Jetzt reist er für sich allein und macht Fotos von Landschaften. Sie sind alle leer, zum Beleg für die eine, die hier fehlt. Seit sieben Stunden trampt er,

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