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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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dieser Freund schwankt lieber. Er ist auch genügsamer und erwidert, unter dem Apfelbaum sitzend, in dem die Spatzen tschilpen:
    »Ich habe keine Geliebte, bin aber in der Stimmung des Liebesbriefs. Kaum schreibe ich einen, wird es wichtig, dass es dämmert, dass ein Kind im Regen schaukelt, dass die Drosseln den Sommer herbeiflöten …«
    »Es sind Spatzen.«
     
    Als ich Henk am Mittag zu Hause besuche, sitzt er am Couchtisch vor dem laufenden Fernseher, isst Suppe, lässt den Löffel vor dem Mund schweben und bewegt ihn beim Atmen vor und zurück.
    »Leg doch mal«, sagt er, »dieses Album auf, ›Chillout Forever‹.«
    Am liebsten möchte er sich in der Musik verstecken. Im Fernsehen erklärt ein Priester Christus, kulminierend in dem Satz: »Jesus hatte keine Satellitenschüssel.« Wir lachen. Henk nimmt unser Lachen zurück und spricht zur Suppe:
    »Gott ist tot, sagt sich so leicht. Er ist ja nicht der Einzige. Vor ihm starben ja schon eine ganze Menge Götter, einer nach dem anderen, die der Azteken, der Hellenen, der Langobarden.« Er lässt von der Suppe ab, lehnt sich zurück. »Ich wüsste gerne: Was wurde eigentlich aus den Gebeten für die Götter, an die niemand mehr glaubt? Was aus den Opfergaben für Dionysos und Apoll?«
    Ich höre es, die Idee der vergeudeten Gebete hebt sich als ein Schwarm. Mir fällt auch der nepalesische Asket ein, der sagte, die Dämonen hätten es auch schwer im Leben, weil wir so viel beten. Vor einem Jahr noch saß Henk im Gefängnis. Er hatte eine Frau im Affekt erwürgt, zehn Jahre Haft hinter sich. »Komisch«, hatte er einmal zu mir gesagt, »dass ich immer so warme Hände habe.«
    In der Haft stülpte er sich manchmal einen Pappkarton über den Kopf, um ein bisschen Privatheit zu haben. Ich sehe ihn vor mir, wie er sich aus dem Inneren des Kartons heraus Gedanken macht über den Verbleib von Gebeten.
     
    Endlich wird es regnen. Dann geh ich hinaus, lasse die Tür offen stehen, und schon erreicht mich der Durchzug am Schläfenhaar. Nach aufsteigender, nasser Erdenbräune riecht es. In der Bibliothek hinter mir hebt und senkt sich die Dünung der Stimmen, drei Gruppen von Gerede schleichen sich in die Lektüre: auf der Terrasse zwei Mädchen, von denen das eine monoton einen Sachverhalt auf Portugiesisch entwickelt, gegen den das andere gedämpfte Einwürfe platziert. – Vom Empfang das glucksende Lachen der beiden Rezeptionistinnen, die schon so lange zusammenarbeiten, dass sich die Stimmen angepasst haben und ineinanderspielen wie eine Instrumentengruppe. – Schließlich die ältere Dame zu meiner Linken, die sich einen Text leise zweifelnd vorliest und den Basso ostinato bildet. Lange genug verfolgt, schon klingt alles wie vom Blatt gespielt. Satzende. In das Schweigen hinein flattert der erste einzelne, von der Lesenden skeptisch geflüsterte Satz:
    »Diese Zeit hat nicht mal mehr ein Recht auf Melancholie!«
     
    Jeder, der in der Nacht trunken über das Kopfsteinpflaster nach Hause geht und den Schatten betrachtet, der vor ihm nach Hause schwankt, und die Häuserwände, die zu beiden Seiten aufragen und die schlafenden Brüstchen der Vögel fühlt, die unter den Dachvorsprüngen sitzen, wie sie sich heben und senken und so weiter, der muss sich sagen, das bist du schon lange nicht mehr, sondern es ist die mitgeführte Vorstellung deiner selbst, du Geisel einer Neigung, in Sätzen zu sehen. Doch dann hat die Nachtbäckerei schon geöffnet, ich trete, satt wie ich bin, in den warmen Geruch des Gebäcks, kaufe zwei heiße Brioches und habe das Fassbare gleich als schmelzenden Zuckerguss an meinen Fingern.
     
    Die Argentinierin ist in einen gerafften Designersack gewandet, der ihr steht. Ihre Hände ruhen starr auf dem Standmikrophon, während ihr Körper bei jedem vokalartistischen Angriff auf die hohen Lagen auf die Zehenspitzen steigt. Dann fällt die Rechte abwärts auf die Höhe der Taille, wo sie mit eingeklappten Fingern bleibt, als trage sie Sand, aber nein, sie ist unbeweglich, eine Kunsthand, blass und unflexibel, erstarrt in der unauffälligsten Position.
    Schon steigt die Sängerin wieder auf die Zehenspitzen. Ihre Stimme, so dünn wie rauchig, ergießt sich in den Fluss der Big Band und geht darin unter, ein Instrument unter anderen. Aber als sie in den Aufschwung der Polka Correntina schwenkt, die an eine Toberei aus dem Balkan erinnert, da öffnet sich plötzlich die steife Hand, entfaltet sich in der Luft und fliegt, die rote Haarspange schickt

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