Momentum
sagt er. Kotzübel ist ihm vom Duft der Blumen am Weg.
In einer kleinen gekachelten Eckkneipe der chilenisch-argentinischen Grenzstadt Chile Chico brät der schwerhörige Wirt im weißen Unterhemd seine Spiegeleier zu mexikanischer Musik. Er rührt auch Instantkaffee an, winkt den klapprigen alten Gauchos vor der Tür: Ob sie Gehacktes wollen? Teigtaschen? Sie reden über einen, der gestern den »toten Hund« machte, das heißt, die Zeche prellte. Dann sind sie wieder bei der Vergangenheit, die auch mit den zerfetzten Fahnen zu tun hat, die an den hohen Masten rund um das erste Fährschiff knattern, das je den Lago General Carrera überquerte und hier ausgestellt liegt.
Es ist Sonntagmorgen in Chile Chico. Die Trunkenen der Nacht haben zwei zerbrochene Scheiben hinterlassen. Am Fähranlegeplatz sammeln sich versprengte Reisende, auch Heimkehrer, Bauern. Die mit den wiegenden Schritten sind jene, die es schon am längsten umtreibt und die im Laufen leben, mit geröteten Gesichtern, Menschen, die die Straßenkarte nicht anders ansehen als die Straße, die ihnen so lange vor Augen lag. Männer mit breitkrempigen Hüten sind das, Frauen mit großkarierten Flanellhemden, Alte, die mit dem Wanderstock aufs Wasser zeigen, auf die schneebedeckten Berge im benachbarten Argentinien, die Hochebenen, von denen die Schluchten und Schlünde abwärts laufen.
Das Fährschiff ist voll, kann nicht mehr Passagiere aufnehmen. Eine große Ratlosigkeit dehnt sich aus zwischen den verhinderten Reisenden, den Angehörigen, den Offiziellen, den Hoffenden von der Warteliste. Die Gruppe Einheimischer aber stellt sich im Halbkreis auf und lächelt ins Leben, die Frauen alle beleibt, die Männer alle ausgemergelt. Auch zu einem kleinen Monument mit der Aufschrift »Bienvenido a Chile Chico« gehen sie und schwenken fürs Foto scherzhaft ihre Kopfbedeckungen. Es sind dies die Bilder, die man in Jahrzehnten ratlos ansehen wird, weil man kaum noch jemanden von denen kennt, die hier schon nicht mehr jung waren. Man wird vielleicht die Tankstelle im Hintergrund erkennen, die »Copec« heißt und zur Linken die Billettstation mit der Aufschrift »El Refugio«. Kinder kommen, um den Abreisenden beim Abreisen zuzusehen. Der saftige Wind ist so wohlschmeckend. Er weht dem Freund die Haare der Freundin waagerecht ins Gesicht.
Es kommt auch die Alte am Stock vom Anlegeplatz, mit der freien Hand gestützt auf den Enkel, den Abschied noch im Gesicht. Sie gehen alle mit diesem Gesicht, das innerlich einen Abschnitt überquert und ihn nicht lassen kann, diesen Abschnitt in der Zeit.
Es gibt jenen sentimentalen Moment, wenn man einen Menschen nach einer eher flüchtigen Berührung zurücklässt, ihn in seinen Möglichkeiten, in seinem Schön-Sein erlebt hat, nicht in seinen Grenzen, also so, wie er als Versprechen leben und überleben kann. Mir werden die Abschiede manchmal schwer im Gedanken an die Menschen, die bleiben, wieder hinter ihre Möglichkeiten zurückfallen und zurechtkommen werden. Manuel verschwindet hinter einem Hoftor mit zwei Hunden, die nur kommen, ihn aber nicht begrüßen. Lili wird sich einer Expedition anschließen und das Essen tragen. Ihre Adern werden auf den Unterarmen hervortreten und ihre Augen in der Anstrengung wieseln. Jetzt stehen sie im Zimmer und halten eine kleine Rede mit verteilten Rollen, haben einen Pisco Sour parat, aber kein Mittel gegen unsere Rührseligkeit, und sie bringen Sätze hervor von der Art der Brautväter, wenn sie sagen: »Ich habe keine Tochter verloren, sondern einen Sohn gewonnen.« Solche Sätze kehren in diesem Augenblick an ihren Ursprung zurück. Sie werden geboren, und es entgeht mir kein Wort.
Der Kopf des Kellners nähert sich:
»Und? Wie steht’s?«
Er wird immer größer, der rasierte Schädel. Seine Kontaktfreude stößt auf meine Angst vor noch mehr Schluckauf, jetzt, sofort. Es funkelt das Halbrund der Hafenpromenade, der laue Wind atmet auf der Terrasse wie zur Ausbreitung aller Möglichkeiten, repräsentiert durch das Gesicht des Kellners, der auch Zuhälter ist, wenn ich will. Doch bin ich untauglich, das klackernde Spanisch ringsum spreche ich nicht, und die Bedienung mit dem riesigen Muttermal unter dem rechten Auge lächelt wahrscheinlich nicht meinet-, sondern des Muttermals wegen. Der Koch mit der hohen weißen Mütze raucht unterdessen vor der Brandung, und alle sind ein bisschen unordentlich heute, hier, in Antofagasta.
Das Leben, das der Fremde nicht
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