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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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imprägniert sie nicht nur hier, sondern überall gegen das Ironische der Außenwelt. Sie ist eine Mystikerin und frohlockt für die Kunst. Mehr als der Schmelz der wie durch blasiges Glas dringenden Arien bannt mich die Ausstellung der schönen, selbstbewussten Unvernunft.
     
    Das Kartoffelgesicht der Fünfzigjährigen, die über die längste Zeit ihres Lebens vierzig war, hat sich zu lange in der Sonne befunden. Dann noch der Nachmittagswein. Dann noch der Mann mit der Baskenmütze ihr gegenüber. Ach, ihre Augen werden ganz schmal, während sie ein paar Blicke an ihm ausprobiert: Mit dir ist es anders … mit dir könnte ich … ich könnte es mal krachen lassen mit dir … Prompt will er sie mit einer Spargelspitze füttern. Sie formt ihre Zunge zum Schinkenröllchen, er schiebt den Spargel hinein, sie lachen unterdrückt schweinisch.
    »Du bist ja eine ganz Schlimme.«
    Sie legt den Kopf in den Nacken. Er kann sich nicht sattsehen an ihrem Schlimm-Sein.
     
    Einem Kind wird auf seinen Wunsch von der Schaffnerin im Zug der Schuh zugebunden.
    »Das tut weh«, sagt das Kind.
    »Verstehe«, sagt die Schaffnerin, »und dabei habe ich dich noch nicht mal berührt.« Sie lässt sich an der Seite des Mädchens nieder. »Was meinst du, wenn ein Mann mit seinem Atem eine Glasvase bläst – wo bleibt sein Atem?«
    Beide schauen der Frage nach und sich dabei gespannt in die Augen, wer zuckt zuerst, wer antwortet? Als sie beide lachen, sieht es aus, als lache die Kleine zum ersten Mal im Leben auf eine schwesterliche Weise.
     
    Isabel ruft an. Nach Jahren im Ausland, ist sie auf der Durchreise in ein anderes Ausland. Allein durch den Klang ihrer Stimme zieht sie mich in einen Strom der Bilder: Sie legt ihren Kopf in die Armbeuge, dreht sich an der Straßenecke zur x-ten Verabschiedung um, sie rollt ihre Strümpfe am Bein abwärts, lacht ohne Grund.
    »Wollen wir uns sehen?«, frage ich.
    »Langsam, nicht so schnell«, ist ihre Antwort.
    Sie will wissen, ob ich noch reise, noch schreibe, Kinder habe, woran ich arbeite, was ich aus meinem Fenster sehe, was ich heute anhabe … Ich gebe Auskunft.
    »Wollen wir uns sehen?«, frage ich wieder.
    »Gib mir eine Stunde«, erwidert sie atemlos.
    Es folgt der leere Tag, an dem ich durch die Kälte spazieren und anschließend einen Liebesbrief schreiben darf.
     
    Der Redner in der Fußgängerzone hat alles wohl erwogen. Er steht erhöht, faltet zum Auftakt langsam die Zeitung zusammen. Man weiß nicht, folgt nun Humoristisches, Theatralisches, Pantomimisches, dann hebt er mit dem barocken Schwall eines verlorenen Abraham a Santa Clara an:
    »Es beginnt damit, dass man sagt, das ist nicht mehr meine Zeitung. Es endet damit, dass man sagt, das ist nicht mehr meine Zeit. Welche Zeit?«
    Im Hintergrund spielt jemand »Human Nature« auf der Harfe.
    »Ich glaube nicht an die Macht des Zufalls, ich glaube an seine Ohnmacht. Und an unser Verschwinden. Der Mensch wird keine Rolle mehr spielen, nicht, was er ist, nicht, was er gilt, nicht, ob er einzig und verdienstvoll, ob er voller Würde ist. Man wird ihn gar nicht mehr erkennen, und was man erkennt, wird einen nicht interessieren. Was er sagt, wird man nicht glauben, wenn er appelliert, wird man nur seine Funktionen hören, wenn er stirbt, wird man ihm nachrufen, aber lieber im Zorn. Die, an denen man sich reibt, werden die Letzten sein, die man noch erkennen kann. Aber nur solange die Schuppe vom Scheitel fällt … die Knechte von Rom …«
    Es geht noch lange so weiter, es kann noch lange so weitergehen, denn er ist im Recht, und Recht ist genug da und die Sprachmacht donnert. Allein eine Frau auf einer Bank hört ihm zu. Aber wie!, imitiert sie doch dauernd den der Werbung abgeschauten Zusammenhang von Genießen und Augenschließen.
     
    Die persische Großmutter meiner Freundin Fatma kommt aus Teheran und wartet, bis die Tochter von der Arbeit heimkehrt. Immer bringt die Tochter etwas mit, etwas, das der Mutter Deutschland erklären soll. Manchmal hat die Mutter auch tagsüber das Fernsehprogramm durchsucht, aber verängstigt meist schnell wieder ausgeschaltet.
    »Die schreien ja nur.«
    Die Tochter beschwichtigt: »Das ist Deutsch.«
    »Warum zanken die sich denn immer?«
    »Das klingt nur so. Die hören sich auch so an, wenn sie freundlich sein wollen.«
    »Was die nur immer reden«, wundert sich die Großmutter. »Wer so viel redet, hat mehr Gelegenheit, einsam zu sein.«
     
    Der Winter zieht ein im Hinterhof, und wir

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