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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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ändern uns. Im Sommer sehen wir Nachbarn uns noch alle oft an den Fenstern. Man hängt heraus, Stimmen und Musik sammeln sich in dem Trichter. Das Mädchen von gegenüber sitzt immer hoch oben auf dem Fensterbrett und isst Honigbrote, im weißen Hemd, mit nackt baumelnden Beinen. Die Mutter schimpft von innen. Das ändert nichts. Manche Fenster bleiben immer offen, die Wohnungen verständigen sich untereinander, mal durch Geräusche, mal durch Gerüche. Wir werfen uns Blicke zu, wir haben so eine Solidarität des Zusammenlebens. Einige von uns sind sich auf den Straßen nie begegnet, aber von Rückfront zu Rückfront haben wir uns angelächelt.
    Dann kommt der Herbst und man verliert sich. Die Fenster werden zu Rückseiten. Sturm tobt, Schnee taumelt in unseren Schacht herab, färbt die Mauerfluchten pastellen. Er wird tauen, vereisen, tropfen, neuer Schnee wird sich dick und weißblond darüberlegen, und zwischendurch färbt die Asche die Luft rosé.
    Die Gesichter haben sich zurückgezogen. Im Lichtschein sieht man jetzt manchmal eine Gestalt hinter der Gardine auf und ab gehen mit winterlicher Miene. Nie wieder wurde das Mädchen mit den Honigbroten gesehen. Allmählich vergisst man die Leute im Hof, und erst wenn die Frühlingssonne herauskommt, tauchen wie winterharte Blütenknospen die Gesichter am Fenster auf. Da sind wir wieder, sagen ihre Züge, indem sie sich in die Luft recken. Sie sind die alten unter neuen Frisuren, aufsteigend aus anderen Halsausschnitten, das Blühen und Welken neuerlich interpretierend, bereit, wieder in den Sommer ihres Lebens zu schwärmen.
     
    Im Abteil mir gegenüber schläft ein Mädchen mit großen, leicht vortretenden Augen. Selbst schlafend hat sie ein Stummfilmgesicht. Dann treten weitere Gesichter heraus, und dauernd wird sie eine andere. Als es dämmert, nehmen die Metamorphosen dramatische Ausmaße an. Jetzt kann ich das Mädchen gar nicht mehr identifizieren, das vor Stunden noch all dies zusammenhielt. Dauernd ist es im Werden, und aus dem Werden heraus schwirrt es ins Geisterhafte. Der Zugchef sagt die Station an. Und ihr Gesicht, das jetzt aus dem Schlaf heraufdämmert, wirkt wie eines, das aus dem Spiegel der Badewanne taucht und die Brust der Mutter sieht oder einen Herbstwald.
     
    Im Zug auf dem Weg nach Wien warte ich auf Dinge, die die Situation einer Bahnfahrt nach Österreich ausdrücken. Einer, der neben seinem Hund sprintet, einer, der in die Ferne davonläuft, einer, der mit dem bremsenden Zug Schritt halten möchte, einer, der im hohen Gras am Wegrand steht und seinen Hut geraderückt. Dann lange kein Mensch. Ein vom Vogeldreck besprenkelter Güterwagen, gelbe Kieshaufen auf dem ungepflasterten Bahnsteig. Dann einer mit Gummistiefeln in einem Bach, dann ein Gesicht mit nur einem Brillenbügel über dem Ohr. Dann ein Vogelschwarm, in der Luft aufgehängt wie ein Mobile, dann eine über die Hügelkuppe verschwindende Kuhherde, dann drei Frauen, Arm in Arm vor einem Schaf, eine Frau mit Kopftuch in einem Baum, ein Junge, der auf der Holzbank mit der Linken Repetitionen übt, drei Pferde, die in ein Unterholz dringen, ein Mädchen, das einem Zeppelin nachsieht. Sie haben Anschluss zum Nahverkehrszug nach Waging um 11  Uhr  4 auf Gleis  1 .
    Das Motiv des Laufens, das Motiv des Stehens, das Motiv des Verschwindens, das Motiv der Erscheinung in der Luft, die Struktur von Singular, die Dreizahl, Mehrzahl, der verlassene Raum, das Aufsehen, die Tätigkeit der Hand, die Farbe, das Poetisch-Sinnlose an den Vorgängen, ihre Aura, der Textzusammenhang des Ausdrucks: Jetzt bist du dran, jetzt du, jetzt du, alles sieht zugleich in seine Situation und in den Blick, der vorübergeht. Alles lässt sich für einen Augenblick lesen, in einem intimen Füreinandersein zwischen dem Gegenstand und seinem Betrachter. Nenn mich nicht »Gegenstand« sagt der Bildinhalt, nenn mich nicht »Bildinhalt«, sagen Wasser, Bauer, Frau, Hand, Vogel, denn jetzt, in diesem Moment, stelle ich mich doch in einen genießbaren Zusammenhang und spreche von der Schönheit der Feldarbeit, der Müdigkeit des Reisens, der interessanten Vereinzelung der Ruinen, der Ästhetik der Armut, dem Hochglanz der Schwerindustrien, dem Ankommen, dem Scheiden.
     
    Sie hat ein Gesicht wie das Meer. Eigentlich passiert darin nicht viel Neues. Trotzdem kann man nicht aufhören hinzustarren. Ich sehe sie an, beteiligt, aber nicht begierig, mich von ihrer widerborstigen Schönheit einfangen zu lassen. Ich sehe sie

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