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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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abschütteln kann, und das Leben, das in der Fremde auf ihn gewartet hat, sie finden nicht zueinander. Die Fremde kapituliert vor seiner Fremde. Da wohnen Existenzen, damit er sie braucht, und er braucht sie nicht. Er flaniert nur, streift alles, berührt nichts. Das Trinkgeld ist eine Abfindung. Geh. Versuch nicht, mir etwas zu sein. Neu ist, dass der Poolwärter singt, dass die Korbmöbel auf dem Balkon aus Plastikstreifen geflochten wurden, dass die Hunde ins Wasser laufen und der Schlauch des Bademeisters zu kurz ist.
     
    Eben habe ich begonnen zu reisen, drei geographische Punkte miteinander zu verbinden, besetzt von drei Städtenamen mit Charisma. Die Erwartung lebt auf und vergeht. Ich wünsche mir diese Orte nicht leicht, nicht voller sozialer Nachlässigkeit, ich wünsche mir ihr Unaussprechliches, ihre Bildrückseiten. Die Sonne scheint ins Zimmer, alles ist weiß, selbst die Geräusche sind weiß, auch wenn es sich hier um ein Stundenhotel handelt, und nur der Geruch der frischgetrockneten Wäsche aus dem Hof spricht statt derer, die hier wohnt und mir ihr Zimmer überließ. Wir waren uns nicht sympathisch, ihr Gesicht verhehlte es nicht, als sie ging. Desinteressiert waren wir und redeten so dahin. Es gelang. Das Gelingen ist an solchen Situationen das Langweiligste.
    Ich war zufrieden über das Einsetzen von Kopfschmerzen, goss etwas Sekt darüber und setzte mich ans Fenster. Das ratternde Meer schob immer neue Abbruchränder an den Strand. Die Vergangenheit sah genauso aus. Zuletzt verschwand selbst das geöffnete Fenster in der Dämmerung.
    Du könntest abreisen. Ich bin schon abgereist. Du könntest ans Meer fahren. Es liegt da. Wann beginnt die Ankunft? Wann der Frühling, der den gefrorenen Strom entfesselt? Du könntest allein sein. Was hast du? Draußen liegt die Landschaft, die so vollkommen die Idee der Ferne beschriftet. Dann klappt eine Tür, Schritte nähern sich, weg das Meer, das Fenster, der Luftzug. Du könntest allein sein. Du bist es.
     
    Als ich zum ersten Mal von der Atacamawüste hörte, war sie für mich mit der großen Hitze und dem Wort »Salpeter« verbunden. Als ich dort ankomme, ist ihr Kamelhaarton sanftmütig, ihre Hitze aggressiv. Sie will nicht mit Schwärmerei, sondern mit Empörung bereist werden. Einen Kilometer vor San Pedro de Atacama kommt mir auf einem Damenfahrrad eine Blondine entgegen. Sie ist im hellen Sonnenlicht gespenstisch. Mit euphorischem Gesicht und nackten weißen Beinen, nackten Armen radelt sie in die Wüste wie dem Sterben entgegen.
     
    Ein vielleicht zehnjähriger Junge und seine blonde Mutter, offenbar eine Deutsche, sprechen auf dem Flughafen von Lima mit einer Peruanerin über Schokolade und Brot. Der Junge stimmt von Zeit zu Zeit den immer gleichen Kommentar an:
    »Nein. Nein.«
    Dann beginnt er ungeniert und auch unbehelligt zu onanieren. Dazu sagt er in Abständen:
    »Immer dabei. Immer dabei.«
     
    Der Mond kommt um Viertel nach fünf. Plötzlich färben sich die satt terrakotta-curryfarbenen Parkhausfassaden grau und grün, der Wind fährt ungemütlich über Darling Harbour. Die drei vierzigjährigen Freundinnen am Nachbartisch finden ihre Torten in der neuen Beleuchtung plötzlich deplatziert und blicken doch geradeaus auf sie.
    Je inspirierter so eine Straßenmusikerin auftritt, desto größeren Abstand wahren die Passanten. Diese Sängerin steht im Anorak da, singt Koloraturen und nichts als diese. Manchmal fällt sie vor Anstrengung ins Hohlkreuz, dann wieder begleitet sie einen besonders schwer zu treffenden Ton durch einen Ausfallschritt wie beim Fechten. Für Fotos erstarrt sie, singt aber weiter, und manchen hohen Lauf balanciert sie auch auf der Nase wie eine Seehündin den Ball. Bindet sie gerade keine Aufmerksamkeit, schwingt sie in der Taille hinter den Spaziergängern her und schickt ihnen ihren Gesang mit auf den Weg. Reagiert gar niemand, flattern ihre Töne mitleiderregend durch die Luft wie Wimpel. Am erbarmungswürdigsten wird es, wenn sie einen einzelnen Jogger ansingt, ihm nachsingt.
    Ich frage, was denn das sei, was sie da eben gesungen habe: »Semele« sagt sie, es klingt wie »Salami«, »von Händel«. Sie hat den letzten Ton angehalten, wie um den donnernd einfallenden Applaus zu stimulieren. Aber nur ein Kleinkind klatscht im Weggehen, und selbst das klingt ironisch. Sie kriegt das Seelenvolle nicht aus ihrem Gesicht, das hier so unförmig wirkt, dieses Seelenvolle, mit dem sie sich der Kunst nähert. Es

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