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Momentum

Momentum

Titel: Momentum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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froh an. Denn denken wir an einen, der ihr verfallen ist, für den alles von ihr abhängt – wie ausgeliefert ist er ihrer Schönheit und Willkür. Wie sehr müsste er sich ihre Schönheit sogar wegwünschen, er, der sie doch auch ohne liebte.
    Sie nähert sich dem Bett und ist ganz feierlich:
    »Jetzt bekommst du –« Pause. »Mich.«
    Sie schlägt die Decke zurück, mit der Hand, die eben noch beschäftigt gewesen war, das Brathuhn zu zerreißen – sie hatte das gefledderte Fleisch angesehen, dann in meinen Augen geforscht, ob ich es ihr durchgehen ließe: doch, mein Blick war wohl beruhigend: nur zu, und schon hatte sie es zerfetzt, das Huhn mit der elastischen Haut, die gegen die Finger schnellte. Jetzt liegt sie da als Odaliske, dieselbe Linke ist es, die die Decke zurückschlägt, unter der sie jetzt nackt ist, der Beckenschwung steigt hoch, und die Scham liegt im Schatten, und ihre Augen sagen, dass sie weiß, es ist alles gut, sie braucht den Blick nicht zu fürchten, der verweilt, und sie sagt:
    »Bedien dich!«
    Und das Tageslicht streut. Und die Schatten wachsen.
    »Du sollst mich haben«, hatte sie damals gesagt, als es klang wie im Märchen: »Heute in einem Herbst.« Das war damals. Sie hatte nach Apricot und geraspelten Nüssen geduftet, und ich wollte das Jahr eilen sehen, sie umarmen, in die Luft werfen und ihrem Kondensstreifen nachsehen.
     
    Im Speisewagen lächelt die hübsche Frau. Ihr verlebter Begleiter, den sie allenfalls toleriert, produziert dazu das Stereotyp des Lächelnden. Das kleine Mädchen der Frau kennt den Unterschied nicht zwischen »Bedienung« und »Bedingung«. Es sagt: »In diesem Wagen ist Selbstbedingung.« Die Mutter sagt, das stimmt nicht. Das Mädchen fragt: »Und was ist Bedingung?« Die Mutter sagt: »Dazu bist du noch zu klein.« Der Begleiter droht: »Auf dem nächsten Bahnhof sperren wir dich in den Keller.« Das Mädchen beginnt laut italienisch zu zählen. Es hat den Begleiter längst abgeschrieben. Der akkurate junge Beamte am Nebentisch lässt sich ein entsetzliches Mahl zusammenstellen und schließt ab: »Das passt schon.« Euphorische Aufwallung bei dem Gedanken: Ich werde wieder andere Menschen kennenlernen, unvorhersehbare. Hinter mir verwendet ein Herr, über Johann Strauss sprechend, gerade den Begriff »tragische Schönheit«. Die junge Mutter kramt inzwischen in ihrer Handtasche. Das Kind sagt: »Also Selbstbedingung ist hier.«
     
    Als sie in der Badewanne liegt, packe ich den Koffer mit meinen Sachen, lege ihren Hausschlüssel auf den Tisch und verschwinde. Mir ist schlecht vor Enttäuschung. Ich quartiere mich in einem Hotel ein. Leder in Bettnähe hat immer etwas Schweinisches. Ich fliehe ins Bahnhofsrestaurant, zu den vereinten Nationen beim Bier, beim Kartenspiel, beim Palaver. Der Mann an meinem Tisch macht sich Notizen zu einem kritischen Essay über »Bonanza« und »die Familie als Agentur«. Er erläutert mir seinen Ansatz auch mit dem Satz: »Hop Sings proletarisches Selbstverständnis wird konsequent verhindert.«
    Der Bauch tut mir weh, ich haste hinaus, kaufe eine Zeitung voller Blocklettern-Gesichter, lese einen Artikel unter der Überschrift: »Wie geil macht Halbfettmargarine?«, höre einen Mann am Nebentisch zu seiner Begleitung sagen: »Das Knuspern meines Weißbrots wird Musik in Ihren Ohren sein.« Die alte Frau hat es einem Illustrierten-Persönlichkeitstest überlassen, ihr zu sagen, wer sie ist. Nun senkt sie das Magazin, noch befangen von den Resultaten. Bei allem, was man über sich weiß, es gibt immer noch einen Rest, den man den Zeitschriften zu wissen überlässt.
    Alle sieben Sekunden wird in diesem Land eine Straftat begangen. Also jetzt wieder.
    Mein Tisch ist groß und hell. Immer wieder setzen sich hier Menschen nieder, einzeln oder in Paaren und Grüppchen. Ein Mann an der Schmalseite erzählt von einer Nah-Tod-Erfahrung: »Es war gleißend hell, und dahinter rumpelte es.« Eine alte Ehefrau empört sich über ihren Gatten mit den Worten: »Und dann finde ich ihn auch noch über ausgezogenen Bildern!« Ihre Zuhörerin zählt als Antwort Dinge auf, die es nicht mehr gibt: Anstand, Demut, Respekt. Sie bekommt von ihrer Freundin in allem Recht, und die setzt hinzu: »Wo sind nur die Butterbrote hin?« Und die beiden sind gleich bei den Zeiten, als man die Rinden der Brote, waren sie trocken geworden, mit Butter bestrich und wie eine Delikatesse aß und die Bücklinge noch aus der Tonne fischte mit hölzernen

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