Momentum
weiß, aus der Zukunft wird der Atem des Barock, werden die Windhosen des Manierismus kommen. Sie werden die Textilien erfassen und in die Lüfte heben, sie werden eine Leichtigkeit und Stofflichkeit und eine Anziehung durch den Himmel in die Welt bringen, die alles erfassen und aus den Götzen Menschen machen und ihnen einen anderen Teint verleihen wird. Das ist schön, das ist traurig, denn mit dem großen Atem kommt ein neues Temperament in die Welt und besiegelt das Ende der statischen Götzen, die man erst dann wahrhaft anstaunen kann, wenn sie überwunden sind und also die Sehnsucht nach Erdenschwere entstanden sein wird.
Ich komme zurück in meine Pension, da sitzen sie vor dem offenen Gastraum an der Straße, der Wirt und zwei Gäste und feiern die unverbrauchte Zeit ab: Ich muss dabeisein, auch trinken, bald kommt ein anderer noch mit randloser Rundbrille, der sich dazusetzen und streiten muss. Sein Gesicht kennt nur zwei Gestimmtheiten: die restloser Heiterkeit, freundlichsten, zärtlichsten Lachens oder die des vergrübelten Sorgens, bekümmerten Vor-sich-hin-Blickens.
Sie sprechen vom Wein, vom Frühling, vom Schach, von der Poesie und der Sprache. Da alle nicht mehr trinken wollen, trinkt allein der Hausherr noch und verschwindet dazu immer wieder hinter dem Küchenvorhang, von wo die Geräusche des Trinkens in den Gastraum gluckern. Dann kehrt er streitend zurück, nennt »Don Camillo« das größte Buch der Weltgeschichte, »voller Satire, voller Wahrheit«. Dann zieht der mit der grünen Brille ein anderes Buch hervor und schlägt sich mit diesem mehrfach in den Handteller:
»Hölderlin? Sagt Ihnen was?«
Ich setze hymnisch ein. Weg wischt er meine Rede.
»Für mich ist dies der größte Geist seit zwei Jahrhunderten.«
Gewichtig sagt er dies, duldet keinen Widerspruch, blättert durch seine Gedanken und durch sein Buch. Kein anderer Dichter – er nennt ein paar deutsche, englische, italienische – komme an diesen Namen heran, was den Geist, die Höhe, die »grandezza« angehe.
»Sein Name bedeutet kleiner Holunder«, sage ich.
»Eh!«, ruft der Bebrillte, als könne es nicht anders sein. Der gute Hausvater ist inzwischen wieder hinter dem Vorhang verschwunden, hat getrunken und tritt hervor. Dies ist seine Comedia: »In questa città«, legt er los, seine Rhetorik ist große Gebärde samt theatralischen Pausen, ins Nichts geschleuderten Grimassen. Es ist ein Lebensgefühl, das nie vergisst, sich selbst neben der Sache zu fühlen, und zuletzt wirft der trunkene Rhetor die Faust vor die eigene Brust und bekennt: Ein Kritiker sei er, das ja, aber ein Kritiker aus Liebe!
Auf der Straße gehen Frauen vorbei, die wie nasse Pferde riechen. Der Geräuschteppich ist erst noch der des Divertimentos, dann flattern Stimmen im Abend, von denen auch der Name des kleinen Holunders auf und davongetragen wird.
Aus manchen Dörfern im abruzzesischen Gran-Sasso-Massiv haben sich die Jugendlichen ganz zurückgezogen. Sie suchen ihr Glück in der Stadt, sagen die Alten, die sie nicht hindern wollen und können, und die selbst kein Glück mehr dort haben, wo sie es ehemals suchten. Jetzt ist nur noch die Hälfte der Häuser an der Dorfstraße bewohnt, und nur über die Hälfte ihrer Strecke brennt noch die Straßenbeleuchtung. In den aufgegebenen, lichtlosen Häusern aber haben sich die »Vu-cumpra«-Leute niedergelassen, wie die afrikanischen Flüchtlinge heißen, die auf den Märkten geschnitzte Tiere aus der Savanne anbieten und nicht mal das »vuoi comprare« richtig über die Lippen bringen. In diesen Gebirgsdörfern ist so eine eigene Kultur entstanden zwischen den alten Bauern und den jungen Afrikanern. Einmal habe ich einen Greis mit einem jungen schwarzen Hünen Hand in Hand über einen Feldweg kommen sehen. Es war das Ideal eines Feldwegs, das Ideal eines Paares.
Morgens sitze ich allein am Meer und springe mit den Augen von Wellenkamm zu Wellenkamm. Ich nehme die Wellen in dem Augenblick, wenn sie knicken über einem hohl gefressenen Bauch. All diese vergeudete Wucht, die kaum jemand wahrnehmen will. Ich auch nicht, denn als ich sie beschreiben möchte, fehlt mir jedes Wort. Hinter dem Gebüsch steht trotz der frühen Stunde ein regloser Mann und isst Pizza bianca. Das Meer spült zwei zusammengehörige gelbe Plastiksandalen an, bemüht, sie nicht zu trennen. Sonst nichts. Ich setze mich auf meine Sandalen und schreibe mit einem Stock, um Jahre verspätet, ein Paar Initialen in den
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