Momo
„Ich möchte viel lieber“, sagte er schließlich, „daß ihr mir was erzählt - über euch und euer Zuhause, was ihr so macht und warum ihr hier seid.“
Die Kinder blieben stumm. Ihre Gesichter waren plötzlich traurig und verschlossen.
„Wir haben jetzt ein sehr schönes Auto“, ließ sich schließlich eines vernehmen. „Am Samstag, wenn mein Papa und meine Mama Zeit haben, dann wird es gewaschen. Wenn ich brav war, darf ich dabei helfen. Später will ich auch so eins.“
„Aber ich“, sagte ein kleines Mädchen, „ich darf jetzt jeden Tag ins Kino, wenn ich mag. Damit ich aufgehoben bin, weil sie leider keine Zeit haben.“
Und nach einer kleinen Pause setzte es hinzu: „Ich will aber nicht aufgehoben sein. Deswegen geh' ich heimlich hierher und spar' mir das Geld. Wenn ich genug Geld hab', dann kauf ich mir eine Fahrkarte, und dann fahr' ich zu den sieben Zwergen.“
„Du bist dumm!“ rief ein anderes Kind, „die gibt's doch gar nicht.“
„Doch gibt's die!“ sagte das kleine Mädchen trotzig. „Ich hab's sogar in einem Reiseprospekt gesehen.“
„Ich hab' schon elf Märchenschallplatten“, erklärte ein kleiner Junge, „die kann ich mir sooft anhören, wie ich will. Früher hat mein Vater mir abends, wenn er von der Arbeit gekommen ist, immer selber was erzählt. Das war schön. Aber jetzt ist er eben nie mehr da. Oder er ist müde und hat keine Lust.“
„Und deine Mutter?“ fragte das Mädchen Maria. „Die ist jetzt auch immer den ganzen Tag weg.“
„Ja“, sagte Maria, „bei uns ist es genauso. Aber zum Glück hab' ich Dedé.“ Sie gab dem kleinen Geschwisterchen, das auf ihrem Schoß saß, einen Kuß und fuhr fort: „Wenn ich von der Schule komm', dann mach' ich uns das Essen warm. Dann mach' ich meine Aufgaben. Und dann…“, sie zuckte die Schultern, „na ja, dann laufen wir eben so 'rum, bis es Abend ist. Meistens kommen wir ja hierher.“ Alle Kinder nickten, denn mehr oder weniger ging es ihnen allen so. „Ich bin eigentlich ganz froh“, meinte Franco und sah dabei gar nicht froh aus, „daß meine Alten keine Zeit mehr für mich haben. Sonst fangen sie bloß an zu streiten, und ich krieg dann Prügel.“ Jetzt wandte sich ihnen plötzlich der Junge mit dem Kofferradio zu und sagte: „Aber ich, ich kriege jetzt viel mehr Taschengeld als früher!“
„Klar!“ antwortete Franco, „das machen sie, damit sie uns loswerden! Sie mögen uns nicht mehr. Aber sie mögen sich selbst auch nicht mehr. Sie mögen überhaupt nichts mehr. Das ist meine Meinung.“
„Das ist nicht wahr!“ schrie der fremde Junge zornig. „Mich mögen meine Eltern sogar sehr. Sie können doch nichts dafür, daß sie keine Zeit mehr haben. Das ist eben so. Dafür haben sie mir aber jetzt sogar das Kofferradio geschenkt. Es war sehr teuer. Das ist doch ein Beweis - oder?“
Alle schwiegen.
Und plötzlich fing der Junge, der den ganzen Nachmittag der Spielverderber gewesen war, zu weinen an. Er versuchte, es zu unterdrücken und wischte sich die Augen mit seinen schmutzigen Fäusten, aber die Tränen liefen in hellen Streifen durch die Schmutzflecken auf seinen Wangen.
Die anderen Kinder sahen ihn teilnahmsvoll an oder blickten zu Boden. Sie verstanden ihn nun. Eigentlich war jedem von ihnen ebenso zumute. Sie fühlten sich alle im Stich gelassen.
„Ja“, sagte der alte Beppo nach einer Weile noch einmal, „es wird kalt.“
„Ich darf vielleicht bald nicht mehr kommen“, sagte Paolo, der Junge mit der Brille.
„Warum denn nicht?“ fragte Momo verwundert.
„Meine Eltern haben gesagt“, erklärte Paolo, „ihr seid bloß Faulenzer und Tagediebe. Ihr stehlt dem lieben Gott die Zeit, haben sie gesagt. Deswegen habt ihr soviel. Und weil es von eurer Sorte viel zu viele gibt, haben andere Leute immer weniger Zeit, sagen sie. Und ich soll nicht mehr hierher kommen, weil ich sonst genauso werde wie ihr.“ Wieder nickten einige der Kinder, denen man schon Ähnliches gesagt hatte.
Gigi blickte die Kinder der Reihe nach an. „Glaubt ihr das etwa auch von uns? Oder warum kommt ihr trotzdem?“ Nach kurzem Stillschweigen meinte Franco: „Mir ist das gleich. Ich werd' ja später sowieso Straßenräuber, sagt mein Alter immer. Ich bin auf eurer Seite.“
„Ach so?“ sagte Gigi und zog die Augenbrauen hoch, „ihr haltet uns also auch für Tagediebe?“
Die Kinder schauten verlegen zu Boden. Schließlich blickte Paolo dem alten Beppo forschend ins Gesicht.
„Meine Eltern lügen doch nicht“, sagte er
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