Momo
Wirklichkeit mit ihrem Leben geschah.
Darum machten sie Lärm, wann immer die Stille drohte. Aber es war natürlich kein fröhlicher Lärm wie der auf einem Kinderspielplatz, sondern ein wütender und mißmutiger, der die große Stadt von Tag zu Tag lauter erfüllte.
Ob einer seine Arbeit gern oder mit Liebe zur Sache tat, war unwichtig - im Gegenteil, das hielt nur auf. Wichtig war ganz allein, daß er in möglichst kurzer Zeit möglichst viel arbeitete.
Über allen Arbeitsplätzen in den großen Fabriken und Bürohäusern hingen deshalb Schilder, auf denen stand: ZEIT IST KOSTBAR – VERLIERE SIE NICHT! oder: ZEIT IST ( WIE ) GELD – DARUM SPARE! Ähnliche Schilder hingen auch über den Schreibtischen der Chefs, über den Sesseln der Direktoren, in den Behandlungszimmern der Ärzte, in den Geschäften, Restaurants und Warenhäusern und sogar in den Schulen und Kindergärten. Niemand war davon ausgenommen. Und schließlich hatte auch die große Stadt selbst mehr und mehr ihr Aussehen verändert. Die alten Viertel wurden abgerissen, und neue Häuser wurden gebaut, bei denen man alles wegließ, was nun für überflüssig galt. Man sparte sich die Mühe, die Häuser so zu bauen, daß sie zu den Menschen paßten, die in ihnen wohnten; denn dann hätte man ja lauter verschiedene Häuser bauen müssen. Es war viel billiger und vor allem zeitsparender, die Häuser alle gleich zu bauen. Im Norden der großen Stadt breiteten sich schon riesige Neubauviertel aus. Dort erhoben sich in endlosen Reihen vielstöckige Mietskasernen, die einander so gleich waren wie ein Ei dem anderen. Und da alle Häuser gleich aussahen, sahen natürlich auch alle Straßen gleich aus. Und diese einförmigen Straßen wuchsen und wuchsen und dehnten sich schon schnurgerade bis zum Horizont – eine Wüste der Ordnung! Und genauso verlief auch das Leben der Menschen, die hier wohnten: Schnurgerade bis zum Horizont! Denn hier war alles genau berechnet und geplant, jeder Zentimeter und jeder Augenblick. Niemand schien zu merken, daß er, indem er Zeit sparte, in Wirklichkeit etwas ganz anderes sparte. Keiner wollte wahrhaben, daß sein Leben immer ärmer, immer gleichförmiger und immer kälter wurde. Deutlich zu fühlen jedoch bekamen es die Kinder, denn auch für sie hatte nun niemand mehr Zeit.
Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Und je mehr die Menschen daran sparten, desto weniger hatten sie.
SIEBENTES KAPITEL: Momo sucht ihre Freunde und wird von einem Feind besucht
„Ich weiß nicht“, sagte Momo eines Tages, „es kommt mir so vor, als ob unsere alten Freunde jetzt immer seltener zu mir kommen. Manche hab' ich schon lang nicht mehr gesehen.“
Gigi Fremdenführer und Beppo Straßenkehrer saßen neben ihr auf den grasbewachsenen Steinstufen der Ruine und sahen dem Sonnenuntergang zu.
„Ja“, meinte Gigi nachdenklich, „mir geht's genauso. Es werden immer weniger, die meinen Geschichten zuhören. Es ist nicht mehr wie früher. Irgendwas ist los.“
„Aber was?“ fragte Momo.
Gigi zuckte die Schultern und löschte gedankenvoll einige Buchstaben, die er auf eine alte Schiefertafel gekratzt hatte, mit Spucke aus. Die Schiefertafel hatte der alte Beppo vor einigen Wochen in einer Mülltonne gefunden und Momo mitgebracht. Sie war natürlich nicht mehr ganz neu und hatte in der Mitte einen großen Sprung, aber sonst war sie noch gut zu gebrauchen. Seither zeigte Gigi Momo jeden Tag, wie man den oder jenen Buchstaben schreibt. Und da Momo ein sehr gutes Gedächtnis hatte, konnte sie mittlerweile schon ganz gut lesen. Nur mit dem Schreiben ging es noch nicht so recht. Beppo Straßenkehrer, der über Momos Frage nachgedacht hatte, nickte langsam und sagte: „Ja, das ist wahr. Es kommt näher. In der Stadt ist es schon überall. Es ist mir schon lang aufgefallen.“
„Was denn?“ fragte Momo.
Beppo dachte eine Weile nach, dann antwortete er: „Nichts Gutes.“ Und abermals nach einer Weile fügte er hinzu: „Es wird kalt.“
„Ach was!“ sagte Gigi und legte Momo tröstend den Arm um die Schulter, „dafür kommen jetzt immer mehr Kinder hierher.“
„Ja, deswegen“, meinte Beppo, „deswegen.“
„Was meinst du damit?“ fragte Momo.
Beppo überlegte lang und antwortete schließlich: „Sie kommen nicht wegen uns. Sie suchen nur einen Unterschlupf.“ Alle drei blickten hinunter auf die runde Grasfläche in der Mitte des Amphitheaters, wo mehrere Kinder ein neues Ballspiel spielten, das sie erst diesen Nachmittag
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