Mond der Unsterblichkeit
Schließlich hatte sie Mom und Dad versprochen, wenigstens am letzten Tag pünk t lich zu sein. Der letzte Tag in London. Ihr Herz hing an dieser Stadt. Eine unglaubliche Traurigkeit beschlich sie. Schon morgen würden sie London verlassen, um in ein langweiliges Kaff im Norden Schot t lands zu ziehen. Und das so kurz vor ihrem Studiena b schluss.
Vor zwei Jahren hatte sie keine Lust gehabt, noch länger die Schulbank zu dr ü cken. Sie träumte von einer Schauspielkarriere und pfiff, zum En t setzen ihrer Eltern, auf einen Collegebesuch. Monatelang jobbte sie an einem kleinen The a ter, in der Hoffnung auf ein festes Engagement, durch das ihr schauspielerisches Talent entdeckt würde. Doch die Träume zerplatzten wie Seifenblasen. Ein ve r lorenes Jahr, in dem sie nicht über schlecht bezahlte Rollen hinau s kam, und die sie in ihrer Schauspielkarriere nicht weiterbrachten. Ihre Traumrolle spielte sie nur ei n Mal, denn kurz darauf musste das Theater aus finanziellen Gründen schli e ßen.
Hätte sie nicht kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag Carole und Shannon, ihre alten Schulfreundinnen, wiedergetroffen, wäre sie vielleicht nie aufs College gegangen, um jetzt die Universität besuchen zu können. Gerade an den Studie n alltag in London gewöhnt, musste sie schon die Uni wechseln. Amber seufzte. Wie sehr würde sie ihre Freundinnen vermissen, die gemeinsamen Unterne h mungen und Au s flüge, bei denen sie so viel Spaß hatten. Amber spürte Tränen aufsteigen, die sie krampfhaft fortzublinzeln versuchte. Daran änderte auch di e ser Frus t kauf nichts.
Sie hastete die Brompton Road entlang zur Bushaltestelle. Die Trageriemen der Tüten schnitten in ihre Finger, ebenso wie die neuen, ultr a modernen Pumps in ihre Fersen. Es brannte höllisch. Und auch ihre hautenge Jeans erwies sich beim Einkaufsbummel nicht gerade als b e quem. Alles nur der Schönheit Willen. Immer wieder zog sie ansprechendes Design legerer Kleidung vor, weil Charles es sich so gewünscht ha t te. Verfluchter Charles! Sie musste ihn sich endlich aus dem Kopf schlagen. Es war aus und vorbei. Endgültig. Sie hatte ihm nicht mehr zu gefallen.
In Schottland begann ein neues Leben.
Sie hielt kurz an, setzte die Tüten ab, um ihren Fingern eine Auszeit zu gö n nen. Wie im Rausch hatte sie Bücher gegen Langeweile gekauft, warme Socken zum Vorbeugen gegen die schottische Kälte, und unzählige CDs, die ihre Sti m mung aufhellen sollten. Sie zwängte sich durch die enge Bustür und ließ sich erleichtert auf einen der Sitze fallen. Das Gesicht gegen die Scheibe g e drückt, sog sie während der Fahrt jedes Detail des Stadtbildes in sich auf, als kehre sie nie mehr zurück. Jedes Haus, jede Straßenecke war ihr vertraut.
Überall lagen Erinnerungen, schöne und auch traurige. An der einen Straße n ecke vor dem Coffeeshop hatte Charles sich von ihr wegen Jan i ce getrennt. Mein Gott, wie sehr war sie in ihn verliebt gewesen, diesen schwarzhaarigen Sunnyboy, der jedes Frauenherz in der Universität h ö her schlagen ließ. Eben jedes, darüber konnte auch der unschuldige Blick aus seinen blauen Augen nicht hinwegtä u schen. Das Gefühl der Ei n samkeit und Demütigung würde sie nie vergessen. Die Tage nach der Trennung wurden zur Qual, denn sie begegnete ihm fast tä g lich nach den Vorlesungen, wenn er Janice abholte. Wenigstens würde der U m zug nach Schottland helfen, das unselige Ende ihrer Beziehung zu verge s sen.
Vaters Entscheidung, die Stellung in Schottland anzunehmen, rettete die Fam i lie aus der finanziell misslichen Lage. Nett umschrieben. Amber lächelte bitter, denn alle Ersparnisse waren verbraucht und Vater ve r schuldet. Ihre letzte Gage der Laienbühne befand sich nach ihrem Frus t kauf in den Tüten zu ihren Füßen. Lange hatte ihr Vater vergeblich nach einem Job gesucht, der besser bezahlt wurde, und ihn gleichzeitig erfüllte, bis er zufällig auf das Angebot der Macfarl a nes Whisky-Brennerei stieß, die einen G e schäftsführer suchte. Für Dad, der selbst aus einer Familie schottischer Whiskybrenner stammte, ging ein Wunsc h traum in Erfüllung. Natürlich wäre sie lieber in London geblieben, um das Stud i um zu b e enden, aber dazu reichten die finanziellen Mittel nicht. Wohnungen in Londons City waren kaum b e zahlbar.
Der Bus hielt. Amber raffte die Tüten zusammen, und zwängte sich an den stehenden Fahrgästen vorbei zum Ausgang. Glücklich, der stickigen Luft im Bus entronnen zu sein, atmete sie tief durch.
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