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Mond der Unsterblichkeit

Mond der Unsterblichkeit

Titel: Mond der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Meyer
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Der Weg bis zur Haustür kam ihr en d los vor, und führte sie an viktorianischen Häuserzeilen vorbei, in denen im ve r gangenen Jahrhundert reiche Bürger Londons gelebt hatten. In den winzigen Vo r gärten, eingezäunt von spitzzackigen Metallzäunen, blühten noch die letzten Rosen. Zwischen den einzelnen Häuserblocks führten schmale Gassen zu Hi n terhöfen, in denen Amber oft mit Shannon als Kind gespielt ha t te.
    Eine plötzliche Welle der Verzweiflung durchflutete Amber, und ve r ursachte ein unangenehmes Kribbeln in ihren Adern, als fließe Strom hindurch. Sie spü r te, wie jemand verzweifelt um sein Leben kämpfte. Die Gabe, tiefe Empfindu n gen anderer aufzunehmen, gar zu teilen, besaß Amber schon, seit sie denken konnte. We s halb gerade sie diese Fähigkeit besaß, konnte sie sich nicht erklären. Niemand in ihrer Familie verfügte darüber. Eine Gabe? Eher eine Last, denn überall traf sie auf Unverständnis, manche hielten sie für hysterisch. Deshalb vermied sie es, darüber zu reden. Bei jedem Menschen verspürte sie Wellen, die ihn wie eine Hülle umgaben, und die bei Sti m mungslagen variierten. Negative Gefühle wie Furcht und Trauer trafen sie wie Schwingungen und lösten die gle i chen Empfindungen bei ihr aus. Auch in diesem Moment breitete sich ein una n genehmes Gefühl wie Schallwellen in ihrem Körper aus. Sie schloss die Augen, um den Ort der Ve r zweiflung zu erspüren. Ein leichter Wind wehte zu ihr und mit ihm ein u n bestimmtes Angstgefühl.
    Kurz darauf betrat sie einen der Hinterhöfe, in denen sich vollgestopfte Mül l tonnen drängten. Alles sah heruntergekommen aus. Das Milieu verstärkte ihr b e klemmendes Gefühl. Es roch penetrant nach fauligem Obst und verdorbenem Fisch. Widerlich. Amber hielt sich die Nase zu. Dort, zwischen den Mülltonnen, ve r stärkten sich die Schwingungen.
    In einer der Tonnen raschelte es und ein klägliches Miauen erklang. Amber hob den Deckel an. Im selben Augenblick sprang ihr ein schwa r zes, zerzaustes Bündel fauchend entgegen, und landete auf ihrer Schulter. Das Kätzchen war ausgemergelt und zitterte am ganzen Leib. Irgendjemand musste es in die Mül l tonne gesteckt haben, in der Hoffnung, sich des Tieres auf diese Weise zu entl e digen. Vorsichtig nahm Amber das Tierchen von der Schulter und hielt es in der Hand. Jede einzelne Rippe konnte sie ertasten.
    „Du Armes. Wer mag dir das nur angetan haben? Du hast b e stimmt Hunger.“
    Als hätte es ihre Worte verstanden, miaute es leise.
    „Ich nehm dich einfach mit.“ Sie steckte das erschöpfte Tier in ihre Jackent a sche und marschierte zu den Tüten zurück.
     
    „Mein Gott, Amber, hast du mal auf die Uhr gesehen, wie spät es ist?“
    Mit wütendem Blick stand ihre Mutter im Flur, die Hände in die Hüften g e stemmt, das Gesicht geschwollen, und das Haar hing ihr wirr in die Stirn. Wah r scheinlich war sie noch immer am Packen. Über einer zerschlissenen Jeans trug sie eins von Vaters übergroßen Baumwol l hemden und machte keinen Hehl aus ihrer augenblicklichen Hässlichkeit. Noch immer behandelte Mom sie wie einen Teenager, der heru m getrödelt hatte, wenngleich sie es nicht so meinte.
    „Sorry, Mom, aber ich habe den ersten Bus verpasst.“ Das stimmte zwar nicht, aber ihr war spontan nichts Besseres eingefallen. Mom war von Anfang an mit ihrem Ausflug in die City nicht einverstanden g e wesen.
    Nun rollte sie mit den Augen und stöhnte. „Kannst du nicht mal pünktlich sein? Du musstest nicht noch am letzten Tag in die City fahren. Seit einer g e schlagenen Stunde warten wir auf dich. Schließlich musst du deine restlichen Sachen in den Karton packen.“
    „Es tut mir wirklich leid, aber ich wollte für Shannon und Carole noch ein A b schiedsgeschenk kaufen.“
    „Was hast du denn da in der Tasche?“ Mom streckte den Arm aus und deutete auf die ausgebeulte Jackentasche, in der sich etwas b e wegte.
    „Eine Katze.“ Amber versuchte, möglichst unschuldig dreinz u schauen.
    Scharf sog Mom die Luft ein. „Die musst du sofort zurückbringen. Auf der Stelle“, befahl sie.
    Sie mochte es nicht, wenn Tiere im Haushalt lebten. Der alte Kater Willy war vor einem Jahr gestorben. Ständig hatte sie über das Katzenhaare von den M ö beln entfernen g e schimpft, aber sie besaß ein weiches Herz, und das war, was Amber in diesem Moment zu ihren und des Kätzchens Gunsten nutzte.
    „Sie war in einer Mülltonne eingesperrt.“ Hoffentlich würde diese schreckliche Tatsache Moms

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