Mond der verlorenen Seelen
in denen sie Gealach verlassen wollte, doch den Gedanken wieder verwarf, weil Aidan seiner Heimat nicht den Rücken kehren würde. Sein Leben und das seiner Vorfahren waren untrennbar mit diesem alten Gemäuer verbunden, das mehr Schreckens- als Freudenschreie vernommen hatte. Aber ohne ihn wollte sie nicht mehr leben. Er gab ihr durch seine Liebe den Halt, den sie brauchte. Sie klammerte sich daran wie an einen rettenden Strohhalm. Die Ereignisse hatten auch sein Leben verändert. Der einst Verständnis- und humorvolle Mann verwandelte sich in einen Vampir, der in einer Welt lebte, zu der für sie kein Zugang existierte. Die unsichtbare Mauer zwischen ihnen war unüberwindbar, selbst wenn sie sich noch so sehr bemühte, ihn zu verstehen. Das bedrückte sie jeden Tag mehr.
Als es im Unterholz knackte, blieb sie abrupt stehen. Dann herrschte Stille. Die Dämonenprüfung hatte sie sensibilisiert. Wieder ein kurzes Knacken, diesmal dicht neben ihr.
Nichts geschah.
Noch einen Moment verharrte sie und lauschte, doch es blieb still. Nach wenigen Schritten wirbelte sie herum. Irgendetwas folgte ihr. Und es fühlte sich nach einer Präsenz an, die nicht von dieser Welt stammte.
Ein Dämon! All ihre Befürchtungen bewahrheiteten sich.
Ihr blieb keine Zeit für eine Flucht, denn etwas traf sie mit voller Wucht von hinten zwischen die Schulterblätter und riss sie zu Boden, wie ein Hirsch, der einen Blattschuss erhielt. Doch anstelle einer Schrotkugel bohrten sich Krallen in ihren Rücken. Amber schrie und langte nach dem Dämon, der sie auf den Boden drückte, doch sie griff ins Leere. Hermit hatte recht, in Wirklichkeit waren diese widerlichen Kreaturen noch schlimmer. Mit aller Kraft stützte sie sich auf die Hände und stemmte ihren Oberkörper nach oben. Aber je weiter sie versuchte, ihren Rücken anzuheben, desto stärker drückte der Dämon sie wieder nieder.
„Lass mich los, du verfluchtes Biest!“
Eine eiskalte Hand presste sich gegen ihre Wange. Verzweifelt versuchte Amber, sie abzustreifen, aber sie griff erneut ins Leere. Schon spürte sie, wie rasiermesserscharfe Krallen in ihre Wange schnitten. Der brennende Schmerz an Rücken und Gesicht machte Amber rasend. Sie fühlte sich so hilflos wie eine Fliege im Netz einer Spinne. Nach einer Weile blieb sie keuchend liegen. Dann versuchte sie es mit Rütteln und Schütteln, alles erfolglos. Wie ein schwerer Sack hing er weiter auf ihr. Als ihre Gegenwehr erlahmte, wurde das Gewicht auf ihren Schultern leichter. Das brachte zwar einen kurzen Moment der Erleichterung, aber schon ging es weiter, als sie sich befreien wollte. Fieberhaft suchte ihr Hirn nach einer Möglichkeit, sich dieses widerwärtigen Geschöpfes zu entledigen. Sie musste sich auf ihre Kräfte konzentrieren, so wie es ihr in der Dämonenwelt gelungen war. Ein Werwolf aus Fleisch und Blut wäre ihr weiß Gott lieber gewesen.
„Was willst du von mir?“ Ein Arm legte sich um ihren Hals und drückte gegen ihren Kehlkopf. Amber begann, zu würgen. Der Druck auf ihren Kehlkopf ließ unerwartet nach, und der Dämon malträtierte ihre Arme. Das gewährte ihr einen kurzen Moment der Konzentration, den sie brauchte. Sie schloss die Augen, breitete die Arme aus und flüsterte: „Geister des Windes, helft eurer Tochter.“
Kaum hatte sie die Worte gesprochen, wehte ein heftiger Wind. Leider blieb auch das ohne Erfolg. Der Dämon schien an ihr festgewachsen zu sein.
„Scheiße!“, stieß Amber aus und knirschte mit den Zähnen. Der Druck auf ihren Nacken verstärkte sich wieder, bis er unerträglich wurde. „Geister aller Elemente, vereint eure Kräfte gegen den Feind eurer Tochter“, flüsterte sie mit erstickter Stimme. Jetzt konnte sie nur auf die Hilfe der Naturgeister vertrauen.
Heftige Windböen erfassten sie und zerrten an dem Geschöpf, das sie noch immer eisern umklammert hielt. Aber sie bewirkten nichts und Ambers Hoffnung schwand wieder. Sie wollte um Hilfe rufen, aber nur ein heiseres Röcheln drang aus ihrer Kehle. Die Luftgeister vermochten ihr nicht zu helfen. Doch noch wollte sie den Kampf nicht aufgeben. Während sie nach Atem rang, fiel ihr Blick auf vertrocknete Gräser, Relikte des Winters. Dazwischen mogelten sich die ersten grünen Frühlingstriebe. Sie streckte einen Arm aus und spreizte die Finger, als könne sie die Gräser berühren. Vor ihren Augen begannen Punkte zu tanzen und ihre Zunge fühlte sich taub an. Jetzt gelang es ihr, sich auf die Kräfte in ihrem Inneren zu
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