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Mond der verlorenen Seelen

Mond der verlorenen Seelen

Titel: Mond der verlorenen Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elke Meyer
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registrierte Amber, wie sehr ihr Bruder sich Mühe mit seinem Aussehen gegeben hatte. Fürs Zeitungsaustragen etwas overdressed. Seine Jeans mit den vielen Löchern am Knie und seine verblichene Jacke hatte er gegen ein modisches Blouson und eine Jeans von Dad eingetauscht. Außerdem duftete er nach teurem Rasierwasser, das ebenfalls Dad gehört hatte. Amber unterdrückte ihre Fragen und ein Schmunzeln und startete den Wagen.
    Der betagte Mini zockelte die Landstraße in Richtung Süden entlang, umrundete Loch Gealach und passierte den Hügel von Clava Cairn. Wie immer, wenn sie daran vorbeifuhr, bekam sie eine Gänsehaut. Kevin machte es sich im Sitz bequem, stellte die Lehne zurück, schloss die Augen und stöpselte die Hörknöpfe seines MP3-Players in die Ohren. Wie immer viel zu laut, dass Amber die Bässe als rhythmisches Schnarren hören konnte.
    Selbst sein Haar hatte er gegelt, es glänzte speckig und roch ein wenig nach Pomade. Das erinnerte Amber an den Theaterfundus und die barocken Perücken, die sie einst mit Charles ausprobiert hatte. Das alles schien so unendlich weit weg zu sein, wie ein anderes Leben.
    „Wo soll ich dich absetzen?“
    Kevin nickte im Takt zur Musik und schwieg. Erst auf einen Ellbogenstoß Ambers schlug er die Augen auf. Er zog sich einen Stöpsel aus dem Ohr.
    „Vorm Dungeon“, antwortete er und gähnte.
    „Hab ich was verpasst? Da gibt’s doch keine Zeitung.“
    Kevin rutschte hin und her. „Nee, aber ein Büro. Dort hole ich es ab.“
    „Aha. Gut, wir sind gleich da. Willst du auch wieder mit mir zurückfahren?“
    „Nö, ich nehm dann den Bus.“
    „Es sieht nach Regen aus, ich hol dich lieber ab. Also, wann und wo?“
    Er gab widerwillig nach. „Hier, so gegen sechs.“
    Er deutete auf den Eingang des Dungeons, eine Art lebendiges Museum mit Akteuren, in dem die Besucher mehr über die Stadtgeschichte Edinburghs erfahren konnten.
    „Okay, also bis dann.“
    Kevin nickte und hastete aus dem Wagen. Nur wenig später schlängelte sich Ambers Mini in die endlose Reihe der Wagen auf der Princes Street ein. Wenn sie Beth nach der Probe abpassen wollte, musste sie sich beeilen. Und bei dem dichten Feierabendverkehr erschien ihr das unmöglich. Sie kam mühsam voran und verfluchte ihre Entscheidung. Sie hasste den Stadtverkehr, noch dazu in der Rushhour. Was für eine blöde Idee. Immer wieder warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und trommelte auf dem Lenkrad herum. Der Verkehr wälzte sich im Schritttempo durch die Straßen. Jede Ampel schaltete auf Rot und ließ sie fluchen. Nach einer endlosen Weile bog sie in die Straße ein, in der sich das nostalgisch anmutende Theater befand, das in Edinburgh ein Geheimtipp war. Zu beiden Seiten der Straße versprühten im Laufe der Zeit nachgedunkelte Sandsteinhäuser im viktorianischen Stil ihren Charme. Oberhalb lag die Altstadt, mit ihren zahlreichen Closes, ein Netz uralter, unterirdischer Gassen, das sich unter den Häusern erstreckte. Es war ein Relikt aus dem siebzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter der Pest in Edinburgh. Legenden berichteten von den Seelen der Pestopfer, die dort noch herumgeisterten. Früher hatte Amber diese alten Schauergeschichten belächelt.
    Zum Glück fand sie in der engen Straße eine Parklücke, in die sie ihren Mini bugsierte. Eine Flügeltür am Seiteneingang des Theaters war bereits geöffnet, woraus Amber schloss, dass die Probe beendet war. Sie blieb im Mini sitzen und wartete auf Beth. Bereits nach wenigen Minuten verließen die Akteure das Theater, aber Beth war nicht dabei. Amber wartete fast eine Stunde und war enttäuscht. Nur durch Beths Beziehungen besaß sie eine Chance, diesen Job zu ergattern.
    Eine blonde Frau, Mitte zwanzig, blieb vor der Tür stehen und rauchte. Ihre Hände zitterten, als sie sich eine neue Zigarette ansteckte. Immer wieder blickte sie sich um und lief auf dem Kopfsteinpflaster auf und ab. Amber spürte wieder diese feinen Schwingungen, die sich wie Störfrequenzen auf ihrer Haut sammelten. Sie kurbelte das Wagenfenster herunter.
    „Hallo, Entschuldigung, ich suche Beth Gardener. Ist sie vielleicht noch im Theater?“
    Die Blonde zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. „Die ist heute gar nicht gekommen.“
    „Ach, wir waren verabredet. Schade. Wissen Sie, ich bin eine gute Bekannte von Beth. Ist sie etwa krank?“
    „Weiß ich nicht. Die ist schon seit Montag nicht zur Probe gekommen. Keiner weiß, was los ist. Mann, die hat uns ganz schön hängen

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