Mond über Manhattan
mich nun vergötterte, als sei ich sein eigen Fleisch und Blut. Er hielt meine Hand und murmelte, ich sei ihm ein Trost, er sei ja so froh, daß ich bei ihm sei. Anfangs mißtraute ich diesen sentimentalen Ergüssen, doch dann häuften sich die Anzeichen für diese neue Zuneigung immer mehr, und mir blieb nichts anderes übrig, als sie als echt zu akzeptieren. Zu Anfang, als er noch kräftig genug war, ein Gespräch zu führen, stellte er mir Fragen über mein Leben, und ich erzählte ihm von meiner Mutter und Onkel Victor, von meiner Zeit auf dem College und der schrecklichen Phase, die zu meinem Zusammenbruch geführt und aus der Kitty Wu mich gerettet hatte. Effing sagte, er sorge sich, was aus mir werden würde, nachdem er abgekratzt sei (das Wort stammt von ihm), doch ich versuchte ihn mit der Versicherung zu beruhigen, daß ich durchaus imstande sei, für mich selbst zu sorgen.
«Sie sind ein Träumer, Junge», sagte er. «Sie weilen mit Ihren Gedanken auf dem Mond, und daran wird sich, wie es aussieht, auch nichts ändern. Sie haben keinen Ehrgeiz, Geld ist Ihnen völlig unwichtig, und Sie sind viel zu sehr Philosoph, um ein Gefühl für Kunst zu haben. Was soll ich nur mit Ihnen machen? Sie brauchen jemanden, der sich um Sie kümmert, der dafür sorgt, daß Sie zu essen bekommen und ein bißchen Geld in der Tasche haben. Wenn ich einmal nicht mehr bin, stehen Sie wieder da, wo Sie angefangen haben.»
«Ich habe Pläne gemacht», log ich in der Hoffnung, ihn von diesem Thema abzubringen. «Vorigen Winter habe ich mich an der Columbia um einen Studienplatz für Bibliothekswissenschaft beworben, und man hat mich genommen. Ich dachte, ich hätte Ihnen bereits davon erzählt. Die Vorlesungen beginnen im Herbst.»
«Und wovon wollen Sie die Studiengebühren bezahlen?»
«Mir wurde ein volles Stipendium zuerkannt, außerdem erhalte ich einen Zuschuß zu den Lebenshaltungskosten. Das ist nicht schlecht, eine phantastische Gelegenheit. Das Studium dauert zwei Jahre, und danach werde ich immer eine Möglichkeit haben, für meinen Lebensunterhalt zu sorgen.»
«Als Bibliothekar kann ich Sie mir nur schwer vorstellen, Fogg.»
«Es ist abwegig, das gebe ich zu, aber ich denke, ich könnte mich dafür eignen. Bibliotheken befinden sich schließlich außerhalb der realen Welt. Es sind abgeschiedene Orte, Zufluchtsstätten des reinen Denkens. Auf diese Weise kann ich für den Rest meines Lebens auf dem Mond weiterleben.»
Ich wußte, daß Effing mir nicht glaubte, sondern nur der Harmonie wegen auf meine Lüge einging; er wollte das harmonische Verhältnis, das sich zwischen uns angebahnt hatte, nicht stören. Das war typisch für das, was in diesen letzten Wochen aus ihm geworden war. Ich glaube, er war stolz darauf, auf diese Weise sterben zu können, als sei die Zärtlichkeit, mit der er mir jetzt begegnete, der Beweis dafür, daß er noch immer in der Lage sei, alles zu tun, was er wollte. Obwohl seine Kräfte ihn verließen, hielt er weiter an dem Glauben fest, er habe sein Schicksal in der Hand, und diese Illusion verließ ihn bis zum Ende nicht: die Vorstellung, daß er seinen Tod selbst herbeigeführt habe, daß alles nach Plan verlaufe. Er hatte angekündigt, der 12. Mai werde sein Todestag sein, und dieses sein Wort zu halten schien jetzt das einzige, was für ihn noch zählte. Er hatte sich dem Tod mit offenen Armen ergeben, wies ihn aber gleichzeitig zurück, kämpfte mit dem letzten Rest seiner Energie darum, ihn abzuwenden, den letzten Augenblick auf den von ihm festgesetzten Termin hinauszuschieben. Selbst als er kaum noch sprechen konnte, als er nur noch mit ungeheurer Anstrengung ein ganz leises Gurgeln in seiner Kehle erzeugen konnte, wollte er jeden Morgen, wenn ich in sein Zimmer trat, als erstes das Datum wissen. Da er kein Zeitbewußtsein mehr hatte, wiederholte er diese Frage im Lauf des Tages alle paar Stunden. Am Dritten oder Vierten des Monats ging es plötzlich dramatisch mit ihm bergab, und es schien unwahrscheinlich, daß er bis zum Zwölften würde durchhalten können. Damit er sich wegen seines Zeitplans nicht beunruhigte, fing ich an, ihm falsche Tagesangaben zu machen, sprang jedesmal, wenn er mich fragte, einen Tag vor, und an einem besonders harten Nachmittag gelang es mir, innerhalb weniger Stunden um drei Tage vorzurücken. Heute ist der Siebte, sagte ich zu ihm; der Achte; der Neunte, und er war inzwischen so weit weggetreten, daß ihm die Diskrepanz gar nicht mehr auffiel. Als
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